Insekten spielen

Die Darstellung von Insekten in Computerspielen

Steuert man noch einige Jahre zuvor einzelne Insekten, so geht es bei diesen sogenannten biologischen Simulationen um ökologische Zusammenhänge. In „Sim Ants“ beginnt man das Spiel mit einer Arbeiter-Ameise und einer Königin und versucht von diesem Ausgangspunkt aus, eine ganze Kolonie zu entwickeln, die sowohl die rivalisierenden roten Ameisen als auch die Menschen von ihrem Territorium vertreiben soll. Als eine von vielen Ameisen gilt es, Pheromone zu verbreiten, das eigene Tunnelsystem auszubauen, Nahrung in den Bau zu bringen, Trophallaxis mit anderen Mitgliedern der Gemeinschaft zu betreiben und Gegnerinnen und Gegner anzugreifen. Durch Fortpflanzungs-Mechanismen erhöht sich die Anzahl der Mitglieder der eigenen Kolonie, wobei externe Ereignisse wie Regen, ein Rasenmäher oder Stromschläge den Dominanzabsichten des Spielenden entgegenwirken.

 

Solche biologischen Simulationsspiele, die bereits seit Mitte der 1980er Jahre auf dem Markt sind, werden in den 2000ern zu einem Randphänomen. Der dreidimensionale Raum erobert das Computerspiel, mit nun vollkommen navigierbaren Habitaten, die in spektakulärer Weise die Welt der Insekten inszenieren. Die Idee von zusammenhängenden Ökosystemen lebt jedoch im Genre der „Open World Spiele“ wieder auf. Ähnlich wie im Eingangsbeispiel sind Tiere, Fische, Insekten und Pflanzen hier Teil einer ornamentalen Inszenierung von Natur: Zweige federn im Wind, Rehe durchstreifen die Wälder und über Steine krabbeln eine Vielzahl von Ameisen, Käfern und anderen Insekten. Das Versprechen: Diese einzigartige Welt lebt und sie ist es wert, entdeckt zu werden.

 

Obwohl in Spielen wie „Grand Theft Auto 5“, 2013, und „Red Dead Redemption 2“, 2018, tierliche Repräsentationen allgegenwertig sind, fristen die Insekten ein Schattendasein. Demgegenüber belebt eine Vielzahl von Insektenarten die Rollenspielwelt von „The Elder Scrolls V: Skyrim“, 2011: Hundertfüßer, Libellen, Motten, Bienen und Schmetterlinge mischen sich hier mit fantastischen Insektenarten und bilden mit Tieren, Fischen und Pflanzen ein lebendiges Habitat. Gleichzeitig sind die Insekten Teil einer ausgefeilten Crafting-Mechanik, in der sie beispielsweise gesammelt und als Zutat für bestimmte Tränke genutzt werden.

 

Die komplexen Umgebungen der „Open World“ laden die Spielerinnen und Spieler dazu ein, in ihr zu verweilen und dem Fortlauf des Lebens beizuwohnen. Fernab von den designten Handlungen sind es die „natürlichen“ Phänomene, welche die Persistenz von Welt an den Spielenden vermitteln: Wohin läuft der Hundertfüßer? Wie weit springt der Grashüpfer? Und wann kriechen die Motten aus ihren Verstecken hervor?

 

Zwischen den Wirren und Grausamkeiten des Ersten Weltkrieges sind es solche Beobachtungen, die das Denken des französischen Philosophen Roger Caillois maßgeblich prägen. Als kleiner Junge in der ländlichen Gemeinde Vitry-le-Brûlé aufgewachsen und fernab von Büchern, Bildern, Kinos und Fernsehern, sind es die Insekten, die Caillois beobachtet, sammelt und kategorisiert: hören, atmen und wittern als Modus der Weltwahrnehmung. Die Dinge, die Caillois aus der Studie der Insekten ableitet, beeinflussen seine Theorie des Spiels maßgeblich. Den Mimetismus der Insekten, also die Verkleidung (travesti), die Tarnung (camouflage) und die Einschüchterung (intimidation) findet Caillois in den Verhaltensweisen und Haltungen der Menschen wieder. Dem regelgebundenen Spiel der „ludus“ stellt Caillois das freie Spiel der „paidia“ zur Seite, welches er vor allem bei Kindern und Tieren findet. Und wenn er seine vielbeachteten Kategorien des Spiels aufzeigt, so geschieht das immer in einer geistigen Nähe zu den beobachteten Insekten und Tieren. Wenn wir also dem Hundertfüßer in Animal Crossing zusehen oder den Flug des Blaufalters in Skyrim verfolgen, so sind wir während des Computerspielens ganz nah an dem, was das Spielen an sich bedeutet.

 

Dieser Text ist zuerst erschienen in Politik & Kultur 6/2021.

Thomas Hawranke
Thomas Hawranke lehrt und forscht im Bereich Transmedialer Raum der Kunsthochschule für Medien Köln.
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