Thomas Hawranke - 28. Mai 2021 Kulturrat_Logo_72dpi-01

Insekten & Kultur

Insekten spielen


Die Darstellung von Insekten in Computerspielen

Es ist 17:30 Uhr. Ich befinde mich auf der südlichen Halbkugel, auf meiner Insel im Nirgendwo. Die Sonne steht bereits tief über dem Horizont. Eine Wanderheuschrecke hüpft über einen Stein, rechts davon flattert ein Himmelsfalter über die Wipfel der Bäume. Ich schlage mit meiner Schaufel auf den Stein und hervor kommt ein Hundertfüßer. Er bewegt sich schnell von mir weg. Geistesgegenwärtig fange ich ihn mit meinem Wackelkescher: „Ein Hundertfüßer! Du hast deine Laufschuhe wohl nicht schnell genug angezogen!“ steht auf dem Bildschirm.

 

Nicht zuletzt wegen der anhaltenden Corona-Pandemie ist das verträumte Gameplay des Konsolenspiels „Animal Crossing: New Horizons“, 2020, für viele Menschen eine willkommene Abwechslung geworden. Als digitales Spielphänomen der Krise lässt es uns all die Dinge zelebrieren, die temporär nicht möglich sind – als E-Learning-Plattform lernen, als Ausstellungsraum Kultur erfahren, als Event-Location heiraten oder eben als Spielumgebung den Alltag vergessen und sich in Freiheit üben. Neben der Herstellung von immer neuen Gegenständen steht das Fangen, Kategorisieren und Ausstellen von Lebensformen im Mittelpunkt der designten Handlungsmöglichkeiten. Neben 40 Meerestieren und 80 Fischarten existieren 80 Insektenarten, die es wegzusperren gilt. Eugen, die anthropomorphisierte Eule, leitet das örtliche Museum, übernimmt für uns die Artenbestimmung und pflegt sie in die Ausstellung ein. Den „Creepy Crawlers“ wird gleich ein ganzer Flügel des Museums gewidmet.

 

Die inhärente Logik des Spiels folgt dabei einer Hierarchisierung der Arten: Zuoberst steht der Mensch als steuerbarer Avatar; darunter anthropomorphisierte Tiere wie Eugen, die als Inselbewohnerinnen und -bewohner unserer Einsamkeit entgegenwirken; danach eine Vielzahl an naturalistisch-anmutenden Tieren, die der Welt Leben einhauchen. Und zuunterst die Arten, wie Fische, Meerestiere und Insekten, die man sammeln kann.

 

Die Darstellung von Insekten in Computerspielen hat sich historisch entwickelt. Ihre Rolle als Teil eines funktionierenden Ökosystems und die damit verbundene Betonung auf Varianz in einem sich ständig anhaltenden Prozess aus Transformation, Entwicklung und Veränderung ist jedoch eine aktuellere Tendenz. 1980 lässt die Firma Atari Inc. den Hundertfüßer über die Bildschirme der Spielhallen krabbeln. „Centipede“ ist ein sogenannter „Fixed Shooter“, bei dem vom oberen Bildschirmrand das namensgebende Insekt in Schlangenlinien durch ein Labyrinth aus Pilzen nach unten läuft. Am unteren Bildschirmrand ist die von dem Spielenden kontrollierte Figur des sogenannten „Bug-Blasters“ zu sehen, eine Waffe, mit deren Hilfe der Hundertfüßer zerstört werden kann. Das Problem: Wird der Hundertfüßer von einem Schuss des Blasters getroffen, so teilt er sich in zwei Teile und beide Segmente existieren fortan autonom voneinander. Zudem bewegen sich noch andere Insekten wie Flöhe, Spinnen und Skorpione über den Bildschirm und erschweren das Vorhaben des Spielenden, den Hundertfüßer zu stoppen. Orientiert sich das Szenario der „Centipede“ an filmischen Vorbildern wie „Tarantula“, 1955, „In der Gewalt der Riesenameisen“, 1977, oder „Starship Troopers“, 1997, so hebt das Handlungsdispositiv des Computerspiels die Eigenarten des Tieres hervor: Der Hundertfüßer ist grantig, schnell, unberechenbar. Er teilt sich, um zu überleben. Und ist er schließlich besiegt, folgt der nächste nur Augenblicke später am oberen Bildschirmrand – der Tod als Teil eines unendlich-wirkenden Kreislaufs des Lebensspiels.

 

Neben der Inszenierung als unberechenbare, riesige Monster und somit Gegner nutzen andere Games der goldenen Ära der Spielhallenspiele Insekten als Vehikel zum Eintauchen in die vergrößerten Makrowelten des Tierlichen. Hierbei werden erfolgreiche Spielkonzepte mit der Darstellung von Insekten weiterentwickelt: Flieht man 1980 im Spielhallen-Klassiker „Pac Man“ als gelber Kreis mit Mund vor farbigen Geistern, so spielt man ein Jahr später in einem modifizierten Labyrinth als Marienkäfer gegen acht unterschiedliche Insektenarten. Was Spiele wie „Lady Bug und Dung Beatle“ zudem einleiten, ist die Verwandlung der Spielerin oder des Spielers in ein Insekt. Werden Insekten als Feinde vergrößert, so werden die Spielenden mit der Übernahme der Kontrolle der Insekten verkleinert. Die vertraute und vergrößerte Alltagswelt wird zum Schauplatz des Abenteuers und ersetzt die fantastisch-fiktiven Welten, die sonst so typisch sind für Computerspiele.

 

Die 1990er Jahre werden bestimmt von dieser wundersamen Neuskalierung. So erkundet man in kafkaesker Manier als Kakerlake die heimische Küche – „Bad Mojo“, 1996 –, oder als Comic-Käfer mit Turnschuhen den riesenhaft-wirkenden Garten – „Bugdom“, 1999. Mit dem Aufkommen der ersten dreidimensionalen Computerspiele wird diese Makrowelt als Erfahrung noch eindringlicher. 1996 kann man im Playstation Spiel „You, Spider: The Video Game“ als Spinne eine vollständig in 3D generierte Welt bestaunen; fast zehn Jahre später ist diese dreidimensionale Welt in „Deadly Creatures“ dann auch frei erkundbar.

 

Neben der Rolle der Insekten als Feind oder als Avatar zeichnet sich in den 1990er Jahren ein genereller Trend im Bereich der Computerspiele ab, in dem konsequenterweise auch das Leben der Tiere miteinbezogen wird: Simulationsspiele, die komplexe systemische Zusammenhänge als Spielerfahrung vermitteln. Exemplarisch hierfür ist die Sim-Reihe, die im Jahr 1989 mit „Sim City“ zunächst die Stadtplanung als Spielkonzept etabliert. Darauf folgen 1990 mit „Sim Earth“ eine globalere Sicht auf die Erde als Ökosystem und 1991 mit „Sim Ants“ der detaillierte Blick in eine Ameisenkolonie.

Steuert man noch einige Jahre zuvor einzelne Insekten, so geht es bei diesen sogenannten biologischen Simulationen um ökologische Zusammenhänge. In „Sim Ants“ beginnt man das Spiel mit einer Arbeiter-Ameise und einer Königin und versucht von diesem Ausgangspunkt aus, eine ganze Kolonie zu entwickeln, die sowohl die rivalisierenden roten Ameisen als auch die Menschen von ihrem Territorium vertreiben soll. Als eine von vielen Ameisen gilt es, Pheromone zu verbreiten, das eigene Tunnelsystem auszubauen, Nahrung in den Bau zu bringen, Trophallaxis mit anderen Mitgliedern der Gemeinschaft zu betreiben und Gegnerinnen und Gegner anzugreifen. Durch Fortpflanzungs-Mechanismen erhöht sich die Anzahl der Mitglieder der eigenen Kolonie, wobei externe Ereignisse wie Regen, ein Rasenmäher oder Stromschläge den Dominanzabsichten des Spielenden entgegenwirken.

 

Solche biologischen Simulationsspiele, die bereits seit Mitte der 1980er Jahre auf dem Markt sind, werden in den 2000ern zu einem Randphänomen. Der dreidimensionale Raum erobert das Computerspiel, mit nun vollkommen navigierbaren Habitaten, die in spektakulärer Weise die Welt der Insekten inszenieren. Die Idee von zusammenhängenden Ökosystemen lebt jedoch im Genre der „Open World Spiele“ wieder auf. Ähnlich wie im Eingangsbeispiel sind Tiere, Fische, Insekten und Pflanzen hier Teil einer ornamentalen Inszenierung von Natur: Zweige federn im Wind, Rehe durchstreifen die Wälder und über Steine krabbeln eine Vielzahl von Ameisen, Käfern und anderen Insekten. Das Versprechen: Diese einzigartige Welt lebt und sie ist es wert, entdeckt zu werden.

 

Obwohl in Spielen wie „Grand Theft Auto 5“, 2013, und „Red Dead Redemption 2“, 2018, tierliche Repräsentationen allgegenwertig sind, fristen die Insekten ein Schattendasein. Demgegenüber belebt eine Vielzahl von Insektenarten die Rollenspielwelt von „The Elder Scrolls V: Skyrim“, 2011: Hundertfüßer, Libellen, Motten, Bienen und Schmetterlinge mischen sich hier mit fantastischen Insektenarten und bilden mit Tieren, Fischen und Pflanzen ein lebendiges Habitat. Gleichzeitig sind die Insekten Teil einer ausgefeilten Crafting-Mechanik, in der sie beispielsweise gesammelt und als Zutat für bestimmte Tränke genutzt werden.

 

Die komplexen Umgebungen der „Open World“ laden die Spielerinnen und Spieler dazu ein, in ihr zu verweilen und dem Fortlauf des Lebens beizuwohnen. Fernab von den designten Handlungen sind es die „natürlichen“ Phänomene, welche die Persistenz von Welt an den Spielenden vermitteln: Wohin läuft der Hundertfüßer? Wie weit springt der Grashüpfer? Und wann kriechen die Motten aus ihren Verstecken hervor?

 

Zwischen den Wirren und Grausamkeiten des Ersten Weltkrieges sind es solche Beobachtungen, die das Denken des französischen Philosophen Roger Caillois maßgeblich prägen. Als kleiner Junge in der ländlichen Gemeinde Vitry-le-Brûlé aufgewachsen und fernab von Büchern, Bildern, Kinos und Fernsehern, sind es die Insekten, die Caillois beobachtet, sammelt und kategorisiert: hören, atmen und wittern als Modus der Weltwahrnehmung. Die Dinge, die Caillois aus der Studie der Insekten ableitet, beeinflussen seine Theorie des Spiels maßgeblich. Den Mimetismus der Insekten, also die Verkleidung (travesti), die Tarnung (camouflage) und die Einschüchterung (intimidation) findet Caillois in den Verhaltensweisen und Haltungen der Menschen wieder. Dem regelgebundenen Spiel der „ludus“ stellt Caillois das freie Spiel der „paidia“ zur Seite, welches er vor allem bei Kindern und Tieren findet. Und wenn er seine vielbeachteten Kategorien des Spiels aufzeigt, so geschieht das immer in einer geistigen Nähe zu den beobachteten Insekten und Tieren. Wenn wir also dem Hundertfüßer in Animal Crossing zusehen oder den Flug des Blaufalters in Skyrim verfolgen, so sind wir während des Computerspielens ganz nah an dem, was das Spielen an sich bedeutet.

 

Dieser Text ist zuerst erschienen in Politik & Kultur 6/2021.


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