Die Idee der Plastizität

Zur Erweiterung des kulturellen Nachhaltigkeitsbegriffes

 

Um welche Komponenten würden Sie entsprechend den Nachhaltigkeitsbegriff ergänzen?
Mich beschäftigt zurzeit der Begriff der „Plastizität“. Plastizität beschreibt die Fähigkeit von Stoffen, sich unter Krafteinwirkung nach Überschreiten einer Fließgrenze irreversibel zu verformen und diese neue Form beizubehalten. Diese Idee wird mittlerweile auch auf neuronale Prozesse ausgeweitet. Mit »neuronaler Plastizität« werden Eigenschaften von Synapsen, Nervenzellen oder ganzen Hirnarealen beschrieben, die sich zwecks Optimierung laufender Prozesse nutzungsabhängig in ihrer Anatomie und Funktion verändern können. D. h., das Gehirn reorganisiert sich in Hinblick auf die Prozesse, die rundherum stattfinden.

Das beschreibt die Anforderungen, mit denen wir im Anthropozän konfrontiert sind. Wissenschaft erzeugt über Technologien neue Welten, die sie gleichzeitig auch beschreiben.

Das ständige Navigieren in einer Welt, die sich permanent durch das, was man tut, verändert, ist die Herausforderung in anthropozänen Welten.
Und Kulturinstitutionen wie das HKW sind aus meiner Sicht dafür da, diese neue Form von Wissen und Orientierung in der Welt zu erarbeiten und Strategien zu entwickeln, wie man damit umgeht.

 

In einem Interview mit dem Tagesspiegel haben Sie gesagt: „Wir können unsere eigene Gesellschaft heute nicht mehr verstehen, ohne sie im globalen Rahmen zu betrachten.“ Für die Nachhaltigkeitskultur gilt dasselbe?
Diese Erkenntnis liegt auf der Hand. Mittlerweile sind wir durch die Informationstechnologie, die Wirtschaftsentwicklung, die Finanzmärkte, aber auch durch kulturelle Produktion weltweit so miteinander vernetzt, dass man die eigene Gesellschaft nicht mehr als eine isolierte behandeln kann.

 

Stehen sich Nachhaltigkeit und Globalität dennoch manchmal konträr gegenüber?
Eine Frage, die dabei immer wieder auftaucht, ist: Welche Bedeutung hat z. B. das Reisen für die Herstellung von Programmen in Institutionen wie dem HKW? Mein erstes Kriterium wäre da immer: Überall da, wo man Ressourcen schonen kann, sollte man sie schonen. Wir kontrollieren in diesem Sinn sehr genau die Strom-, Papier-, Wasser- und sonstigen Verbräuche im HKW. Wir haben uns bewusst dafür entschieden, über die EMAS-Zertifizierung in der Institution einen Umdenkprozess anzustoßen, der ökologisches Handeln in die Institution einschreibt.

Aber auch im Kontext von Nachhaltigkeit geht es nicht einfach darum, bestimmte Sachen quantitativ zurückzufahren oder sie nicht mehr zu tun, sondern jeweils bei Entscheidungen größere Zusammenhänge mitzudenken.

In einer Gesellschaft, die so international vernetzt ist wie die deutsche, sowohl, indem sie auf andere Gesellschaften einwirkt, aber auch indem andere Gesellschaften auf sie einwirken, ist die Erfahrung und die Kenntnis der Situation vor Ort von größter Bedeutung. Gerade in einer sich globalisierenden Welt ist die Kenntnis konkreter lokaler und regionaler Situationen – man spricht von kontextuellem oder situativem Wissen– entscheidend.

Es ist für eine global agierende Institution wie das HKW von grundlegender Bedeutung, dass ich und meine Leute sich auskennen, was in anderen Teilen der Welt passiert und wirklich Ortskenntnisse entwickeln, um zu verstehen, aus welchen Positionen heraus argumentiert wird.

Ich war z. B. gerade im mittleren Westen der USA, weil wir da ein größeres Anthropozän-Projekt mit lokalen Partnern planen. Dort diese Umbruchprozesse der Industrielandschaften zu sehen, diese maroden Infrastrukturen, die einmal eine große Bedeutung hatten, aber dann implodierten und mit dazu führten, dass man sehr vielen Trump-Wählern begegnet – das muss man vor Ort erleben, um zu verstehen, aus welchen Kontexten heraus sich bestimmte politische Entwicklungen generieren.
Dieses situative Wissen ist aber notwendig, weil diese Gesellschaften natürlich direkten Einfluss auf unser Leben in Deutschland haben, sei es auf einer politischen, ökonomischen oder sozialen Ebene.

Der Energieverbrauch, der über Reisen von Kuratoren und Kulturschaffenden in andere Länder erfolgt, steht in keinem Verhältnis zu den Transaktionen an den Finanzmärkten, deren Geschwindigkeit sich der des Lichtes annähert. Die Kluft zwischen dem Wissen über die Veränderungen, die wir erzeugen, und den Veränderungen selbst, wird tagtäglich größer.

 

Vielen Dank.

 

Dieser Text ist zuerst erschienen in Politik & Kultur 1/2018.

Bernd Scherer und Theresa Brüheim
Bernd Scherer ist Intendant des Hauses der Kulturen der Welt (HKW) in Berlin. Theresa Brüheim ist Chefin vom Dienst von Politik & Kultur.
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