Bernd Scherer und Theresa Brüheim - 24. November 2018 Kulturrat_Logo_72dpi-01

Nachhaltigkeit & Kultur

Die Idee der Plastizität


Zur Erweiterung des kulturellen Nachhaltigkeitsbegriffes

Das Haus der Kulturen der Welt ist Ausgangspunkt und Denkstube für Nachhaltigkeitskonzepte und Anthropozänprojekte. Theresa Brüheim spricht mit dem Intendanten Bernd Scherer.

 

Theresa Brüheim: Herr Scherer, was verstehen Sie unter kultureller Nachhaltigkeit?

Bernd Scherer: Für mich ist der Nachhaltigkeitsbegriff von grundlegender Bedeutung. Der Fortschrittsglaube der Moderne hat dahin geführt, dass Kreativität und Innovation im Zentrum unseres Denkens stehen. Das Problem, mit dem wir dann aber konfrontiert sind, ist, dass nicht alles, was denkbar und machbar, zugleich wünschenswert ist. Daher war es ein ganz wichtiger Schritt, Parameter bzw. Gesichtspunkte einzuführen, nach denen man neue Entwicklungen bewertet und politisch verhandelbar macht. Dazu liefert der Nachhaltigkeitsbegriff vor allem im politischen Feld wesentliche Gesichtspunkte.

Der zweite Punkt, der wichtig ist: Der Nachhaltigkeitsbegriff macht deutlich, dass man darauf achten sollte, sich nicht auf Einzelentwicklungen zu konzentrieren und sie zu verabsolutieren, sondern sie in größeren Kontexten und Zusammenhängen zu sehen und zu lesen. Das ist gerade von Bedeutung in einer Gesellschaft, deren Wissen immer fragmentierter wird und in der es sehr schnell vorkommt, dass eine Gruppe, eine Institution oder ein Betrieb sich auf eine bestimmte Form von Entwicklung konzentriert, ohne den Gesamtzusammenhang in den Blick zu nehmen.

Drittens verweist das Kriterium der Nachhaltigkeit darauf, dass wir das Morgen mitdenken sollten. Es fordert dazu auf, die Konsequenzen unseres Handelns für zukünftige Generationen zu berücksichtigen. Hier sehe ich einen Erweiterungsbedarf für das Konzept der Nachhaltigkeit, der uns direkt zu dem Großprojekt führt, an dem das Haus der Kulturen der Welt (HKW) seit Längerem arbeitet, dem Anthropozän.

 

Das Anthropozän, das Zeitalter des Menschen – ein Thema, das unmittelbar mit Nachhaltigkeit zu tun hat…

Die Vorstellung, man könne und solle die Zukunft mitdenken, unterstellt ein mehr oder weniger stabiles Erdsystem. Nur dann lassen sich klare Annahmen über die Zukunft treffen. Diese Vorstellung rührt von der Erfahrung aus der Erdepoche, in der wir bis vor Kurzem lebten, dem Holozän. Unter anderem war das Holozän geprägt von einem relativ stabilen Klima, das den Ackerbau und die Sesshaftwerdung von Menschen begünstigte und daran anschließend Städtebau ermöglichte.

Die Erweiterung der Nachhaltigkeitsidee hängt nun wesentlich von der Tatsache ab, dass wir mit einiger Sicherheit in einem neuen Erdzeitalter leben, dem Anthropozän. Dabei spielen zwei Entwicklungen eine grundlegende Rolle: Erstens hat in den Wissenschaften im 20. Jahrhundert, vor allem in den Naturwissenschaften, eine wesentliche Transformation stattgefunden. Ursprünglich waren sie dafür da, Erkenntnisse über die Natur in Form von Gesetzen herzustellen. Mit der Wende des 19. zum 20. Jahrhundert, verstärkt aber nach dem Zweiten Weltkrieg, tritt eine neue Entwicklung ein: Man analysiert nicht weiter nur die Welt, sondern schafft mithilfe von Technologien neue Welten. Diese stellt man synthetisch aus den kleinsten Teilen – Atom, Molekül, Bit usw. – her, auf die man in der Forschung die Phänomene der Wahrnehmungswelt zurückgeführt hat.

Durch die ständige Schaffung immer neuerer technologischer Infrastrukturen entsteht eine Dynamisierung, die das Erdsystem als Ganzes permanent umformt. In immer kürzeren Rhythmen entstehen neue Technologien. Das Weltverständnis wird nicht mehr durch den Wechsel zwischen Menschen, sondern zunehmend von sich ablösenden Technologiegenerationen geprägt. Dies führt zu einer Destabilisierung unserer Welt, die man sich am Beispiel des Klimawandels vor Augen führen kann. Nehmen Sie im August bzw. September die Hurrikansituation in den Vereinigten Staaten: Dort hat die Klimaveränderung dazu geführt, dass in einem hochindustrialisierten Land ganze Infrastrukturen unter Wasser gesetzt worden sind: Ein extremer Eingriff, der, ausgehend von menschlichem Handeln, nämlich industrieller Produktion, über Klimaveränderungen, also natürlichen Prozessen, rückwirkt auf die Gesellschaft.

In welcher Geschwindigkeit mittlerweile Transformationen über von Menschen geschaffene Infrastrukturen erfolgen, verdeutlichen auch die Finanzmärkte. Dank Algorithmen und digitaler Technologie können Trader an den Finanzmärkten innerhalb von Millisekunden Entscheidungen über die weltweite Allokation von Hunderten von Millionen Euro treffen und damit Entwicklungen an den jeweiligen Orten entscheidend verändern.
Vor diesem Hintergrund muss man die klassische Vorstellung von Nachhaltigkeit hinterfragen. Deutlich wird, die Dynamiken, mit denen wir konfrontiert sind, sind geprägt von einer vorher nicht gekannten Geschwindigkeit, während der Nachhaltigkeitsbegriff im Hinblick auf den Zeitbegriff, der in ihm steckt – nämlich die Planbarkeit der Zukunft – die mehr oder weniger stabile Welt des Holozäns voraussetzt.

 

Um welche Komponenten würden Sie entsprechend den Nachhaltigkeitsbegriff ergänzen?
Mich beschäftigt zurzeit der Begriff der „Plastizität“. Plastizität beschreibt die Fähigkeit von Stoffen, sich unter Krafteinwirkung nach Überschreiten einer Fließgrenze irreversibel zu verformen und diese neue Form beizubehalten. Diese Idee wird mittlerweile auch auf neuronale Prozesse ausgeweitet. Mit »neuronaler Plastizität« werden Eigenschaften von Synapsen, Nervenzellen oder ganzen Hirnarealen beschrieben, die sich zwecks Optimierung laufender Prozesse nutzungsabhängig in ihrer Anatomie und Funktion verändern können. D. h., das Gehirn reorganisiert sich in Hinblick auf die Prozesse, die rundherum stattfinden.

Das beschreibt die Anforderungen, mit denen wir im Anthropozän konfrontiert sind. Wissenschaft erzeugt über Technologien neue Welten, die sie gleichzeitig auch beschreiben.

Das ständige Navigieren in einer Welt, die sich permanent durch das, was man tut, verändert, ist die Herausforderung in anthropozänen Welten.
Und Kulturinstitutionen wie das HKW sind aus meiner Sicht dafür da, diese neue Form von Wissen und Orientierung in der Welt zu erarbeiten und Strategien zu entwickeln, wie man damit umgeht.

 

In einem Interview mit dem Tagesspiegel haben Sie gesagt: „Wir können unsere eigene Gesellschaft heute nicht mehr verstehen, ohne sie im globalen Rahmen zu betrachten.“ Für die Nachhaltigkeitskultur gilt dasselbe?
Diese Erkenntnis liegt auf der Hand. Mittlerweile sind wir durch die Informationstechnologie, die Wirtschaftsentwicklung, die Finanzmärkte, aber auch durch kulturelle Produktion weltweit so miteinander vernetzt, dass man die eigene Gesellschaft nicht mehr als eine isolierte behandeln kann.

 

Stehen sich Nachhaltigkeit und Globalität dennoch manchmal konträr gegenüber?
Eine Frage, die dabei immer wieder auftaucht, ist: Welche Bedeutung hat z. B. das Reisen für die Herstellung von Programmen in Institutionen wie dem HKW? Mein erstes Kriterium wäre da immer: Überall da, wo man Ressourcen schonen kann, sollte man sie schonen. Wir kontrollieren in diesem Sinn sehr genau die Strom-, Papier-, Wasser- und sonstigen Verbräuche im HKW. Wir haben uns bewusst dafür entschieden, über die EMAS-Zertifizierung in der Institution einen Umdenkprozess anzustoßen, der ökologisches Handeln in die Institution einschreibt.

Aber auch im Kontext von Nachhaltigkeit geht es nicht einfach darum, bestimmte Sachen quantitativ zurückzufahren oder sie nicht mehr zu tun, sondern jeweils bei Entscheidungen größere Zusammenhänge mitzudenken.

In einer Gesellschaft, die so international vernetzt ist wie die deutsche, sowohl, indem sie auf andere Gesellschaften einwirkt, aber auch indem andere Gesellschaften auf sie einwirken, ist die Erfahrung und die Kenntnis der Situation vor Ort von größter Bedeutung. Gerade in einer sich globalisierenden Welt ist die Kenntnis konkreter lokaler und regionaler Situationen – man spricht von kontextuellem oder situativem Wissen– entscheidend.

Es ist für eine global agierende Institution wie das HKW von grundlegender Bedeutung, dass ich und meine Leute sich auskennen, was in anderen Teilen der Welt passiert und wirklich Ortskenntnisse entwickeln, um zu verstehen, aus welchen Positionen heraus argumentiert wird.

Ich war z. B. gerade im mittleren Westen der USA, weil wir da ein größeres Anthropozän-Projekt mit lokalen Partnern planen. Dort diese Umbruchprozesse der Industrielandschaften zu sehen, diese maroden Infrastrukturen, die einmal eine große Bedeutung hatten, aber dann implodierten und mit dazu führten, dass man sehr vielen Trump-Wählern begegnet – das muss man vor Ort erleben, um zu verstehen, aus welchen Kontexten heraus sich bestimmte politische Entwicklungen generieren.
Dieses situative Wissen ist aber notwendig, weil diese Gesellschaften natürlich direkten Einfluss auf unser Leben in Deutschland haben, sei es auf einer politischen, ökonomischen oder sozialen Ebene.

Der Energieverbrauch, der über Reisen von Kuratoren und Kulturschaffenden in andere Länder erfolgt, steht in keinem Verhältnis zu den Transaktionen an den Finanzmärkten, deren Geschwindigkeit sich der des Lichtes annähert. Die Kluft zwischen dem Wissen über die Veränderungen, die wir erzeugen, und den Veränderungen selbst, wird tagtäglich größer.

 

Vielen Dank.

 

Dieser Text ist zuerst erschienen in Politik & Kultur 1/2018.


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