Ein gutes Leben für alle Menschen ermöglichen

Die kulturelle Dimension des Klimawandels

Rekordtemperaturen, schmelzendes Grönlandeis, steigende Meeresspiegel, regenerative Energien, Elektroautos – es sind zumeist naturwissenschaftlich-ökologische und technische Begriffe, die unseren Assoziationsraum beim Thema Klimawandel prägen. Dadurch kann schnell der Eindruck entstehen, es handele sich bei dieser Epochenfrage des 21. Jahrhunderts um eine naturwissenschaftlich-technische Herausforderung.

 

Deswegen ist es so wichtig, sich immer wieder in Erinnerung zu rufen, dass hinter der Idee einer „Nachhaltigen Entwicklung“ im Kern ein erweitertes Zivilisations- und Gerechtigkeitsmodell steht: Schon die Brundtland-Kommission des Jahres 1987, die den Begriff der „Nachhaltigen Entwicklung“ prägte, verstand darunter ein globales Projekt: „Nachhaltige Entwicklung“ bezeichnet die Möglichkeit zu einem guten Leben für alle auf diesem Planeten lebenden Menschen – heute und in Zukunft.

 

Und genau hierin liegt die Essenz der Idee „Nachhaltige Entwicklung“: Erstmalig in der Menschheitsgeschichte sind wir in der Lage, uns eine Welt vorzustellen und auf den Weg zu bringen, die allen Menschen die Chance auf ein würdevolles Leben gibt. Und das, obwohl der Planet ökologisch begrenzt ist! Die ökologischen Leitplanken sind eine Randbedingung, die wir beachten müssen. Das zentrale kulturelle Momentum ist aber die Vision einer global gerechten Welt, die die Lebenschancen aller Menschen im Blick behält – egal, wo und wann sie geboren werden. Das hat die Brundtland-Kommission schon im Jahr 1987 so formuliert. Mit den 17 nachhaltigen Entwicklungszielen (SDGs) der Vereinten Nationen wurde es im Jahr 2015 von über 190 Staaten nochmals in einer konkreten Form als Kompass definiert.

 

Wie bringt man eine solche Welt auf den Weg? Die eigentliche Herausforderung ist dabei keine im Kern technologische oder im engen Sinne ökonomische: Wir verfügen heute faktisch über alle technologischen Bausteine, um den Klimawandel zu beherrschen. Diese werden sich in den kommenden Jahren weiter verbessern, sie sind nicht mehr der wirkliche Engpass. Auch ökonomisch sind wir in einer Welt angekommen, die ein jährliches Welt-Bruttosozialprodukt von rund 80 Billionen US-Dollar erwirtschaftet. Das heißt, im Durchschnitt entfällt auf jeden der knapp acht Milliarden Menschen, die derzeit auf dem Planeten leben, ein jährliches Pro-Kopf-Bruttosozialprodukt von über 10.000 US-Dollar. Aus der vergleichenden Wohlstandsforschung wissen wir, dass genau das die Schwelle ist, die ein „gutes Leben“ – gerade mit Blick auf Ernährung, Wohnen, Bildung, Gesundheit – gewährleistet. Ab dieser Schwelle zeigen sich im internationalen Vergleich kaum noch Unterschiede in der subjektiven Zufriedenheit von Nationen. Zumindest von der Größenordnung her hat die Menschheit daher auch inzwischen die ökonomische Potenz entwickelt, das Zivilisationsprojekt einer „Nachhaltigen Entwicklung“ zum Erfolg zu führen.

 

Die eigentliche Herausforderung liegt auf einer kulturellen Ebene. Wie gelingt es, den moralischen Kompass einer auf die ganze Menschheit ausgerichteten Entwicklungsperspektive als handlungsleitendes Prinzip zu erhalten und zum Orientierungspunkt für politisches Handeln auf internationaler, nationaler und lokaler Ebene zu machen? Dass das alles andere als trivial ist, können wir derzeit täglich beobachten. Ein wieder erstarkender Nationalismus nicht nur in den USA oder Brasilien, sondern auch in vielen europäischen Staaten, macht deutlich, wie fragil das kulturelle Gerüst für ein solches globales Zivilisationsprojekt ist. Doch ohne diesen kulturellen Motor laufen auch alle ökonomischen und technologischen Möglichkeiten ins Leere. Sie ordnen sich dann schnell dem Primat von Wettbewerbsfähigkeit und dem Wohlergehen einzelner Gruppen unter.

 

In unserem am Wuppertal Institut im letzten Jahr erschienenen Buch zur „Großen Transformation“ führen wir daher den Begriff der „Zukunftskunst“ ein. Er soll deutlich machen, dass es beim Projekt „Nachhaltige Entwicklung“ um eine Epochenherausforderung geht, die immer von ihrem kulturellen Anfang her gedacht werden muss. Nur von dort wird es dann gelingen, die entsprechenden Institutionen und Politiken zu schaffen, in deren Rahmen sich die ökonomischen und technologischen Möglichkeiten im Sinne einer „Nachhaltigen Entwicklung“ entfalten.

 

Sobald einzelne Gruppeninteressen, Nationalismen oder gar ethnische Abgrenzungen zum dominanten kulturellen Bezugspunkt werden, zerbricht auch das Projekt einer „Nachhaltigen Entwicklung“. Die größte kulturelle Herausforderung ist dabei, die ökonomische DNA der menschlichen Entwicklungsgeschichte der letzten gut 200 Jahre weiterzuentwickeln: Seit dieser Zeit ist die Orientierung am Eigeninteresse zum kulturellen Kern moderner Gesellschaften geworden. Erst dies hat paradoxerweise die technologischen und ökonomischen Erfolge ermöglicht, die den humanistischen Traum einer globalen menschlichen Gesellschaft mit einem würdevollen Leben für jeden greifbar werden lassen. Unser gesamtes politisches und ökonomisches Institutionengefüge ist darauf ausgerichtet, die Kraft des Einzelinteresses und des Wettbewerbes mit anderen zu entfalten und nur behutsam einzuhegen, ohne seine Kraft dabei zu gefährden.

Uwe Schneidewind
Uwe Schneidewind ist Präsident des Wuppertal Institutes für Klima, Umwelt, Energie.
Vorheriger ArtikelUmsetzung der Agenda 2030 ist eine kulturelle Aufgabe
Nächster ArtikelKlima: „Fridays for Future“ fordert grundlegenden kulturellen Wandel