„Unsere Sammlung ist gekennzeichnet durch eine absolut kompromisslose Zeitgenossenschaft“

Was ist relevant? Und was ist es für eine Gesellschaft wert, gesammelt zu werden? Diese Fragen stellt Christian Boros sich selbst beim Kunstsammeln. Dabei agiert er als bedeutender Akteur auf dem Kunstmarkt, der mit Kaufentscheidungen Aussagen auch über das gegenwärtige gesellschaftliche und politische Geschehen trifft. Hans Jessen spricht mit ihm über Kaufen, Sammeln – und ein Bundeskulturministerium.

 

Hans Jessen: Herr Boros, Sie sind jetzt 55 Jahre alt. Mit dem Kunstsammeln haben Sie, so ist zu lesen, als 18-Jähriger begonnen. Was gab den Anstoß?

Christian Boros: Mit 18 habe ich nicht angefangen zu sammeln, sondern das erste Kunstwerk gekauft. Kunst kaufen und sammeln ist ein großer Unterschied. Viele kaufen Kunst und hören auf, wenn die Bude voll ist. Wenn wirklich jeder Platz im Haus, in der Wohnung gefüllt ist, dann hat die dekorative Zurschaustellung seiner Interessen meist ein natürliches Ende erreicht. Das Werk, welches man kauft, aber nicht mehr auspackt, ist der Beginn des Sammelns.

 

Was war der Impuls, als 18-Jähriger zu sagen: „Ich gebe jetzt mein Geld für Kunst aus, wo ich mir auch ein Motorrad oder sonst was kaufen könnte?“

Vielleicht war es eine Abnabelung von meinen Eltern. Als 18-Jähriger bekommt man von den Großeltern, Eltern und Tanten Geld für ein Auto, und ich kaufte mir ein Kunstwerk. Mein Vater ist durchgedreht, ein Aufschrei des Entsetzens. Abnabelung von den Eltern, aber natürlich sind das auch Signale an die Gleichaltrigen, an die Mädchen. Damit findet automatisch eine Intellektualisierung statt. Jemand, der sich für Kunst interessiert, interessiert sich für das Denken von anderen, interessiert sich für Menschen. Kunst ist nichts als Materie gewordenes Nachdenken. Ich glaube, damit wollte ich ganz viel senden. Ich bin nicht jemand, der damit was empfangen hat, sondern damit sendet man. Letztendlich tue ich das bis heute. Es ist nicht so, dass ich inhaliere, was die Kunstwelt tut, sondern ich fühle mich als Akteur – auf meine Art. Ich treffe damit Aussagen: Was ist relevant, was ist wichtig für eine Gesellschaft, was ist lohnenswert, gesammelt zu werden?

 

Wie ticken Sammler? Sie könnten die Kunst ja auch in Museen, Galerien, Ateliers ansehen. Warum geben Sie Geld dafür aus, um das in Ihren Besitz zu bringen? Der ästhetische Wert ist der gleiche.

Ich beneide Menschen, die durch eine Galerie oder ein Museum gehen, schauen, nachdenken, rezipieren und nicht dieses pathologische Bedürfnis haben, es besitzen zu müssen. Aber es ist in meinen Augen die höchste Form der Wertschätzung, dass man nicht Rezipient einer Sache ist, sondern Aktivist. Es ist im wahrsten Sinne eine Verinnerlichung. Kaufen ist wie ein abstraktes Sich-Einverleiben; es ist ein Sich-Einführen, hoffentlich in den Geist, aber auch körperlich eine Vereinnahmung, die bei Kindern anfängt. Wenn Kinder sich für was interessieren, stecken sie es in den Mund. Sie wollen die Legosteine wirklich verstehen. Und schlucken sie dann runter. Es ist Wertschätzung und der wirkliche Versuch, der Sache so nahe zu kommen, dass es nahezu eingeführt wird, um es wirklich zu verstehen – dann auch in Form des Kaufens.

 

Was macht die Sammlung Boros heute aus? Was ist ihre besondere Qualität?

Unsere Sammlung ist gekennzeichnet durch eine absolut kompromisslose Zeitgenossenschaft. Es gibt tolle Sammler, die kaufen jetzt bedeutende Andy Warhols und kriegen eine Sammlung mit extrem wichtigen Werken zusammen. Das sind aber eher Trophäensammler. Sie kaufen für viel Geld bedeutende Werke, deren Bedeutung 30 Jahre später noch zusätzlich gesichert ist. Wir kaufen das junge Gemüse von hier und heute. Natürlich mit der Konsequenz, dass sich einige Künstler, die heute 25 sind, nicht weiterentwickeln. Aber es ist immer ein Spiegeln und ein Verstehen der Gegenwart. Ich habe kein Interesse, heute eine wichtige Arbeit von Ólafur Elíasson 20 Jahre später nachzukaufen, zu vervollständigen. Sondern ich kaufe nach über 22 Jahren des Dranbleibens an einem Künstler – an Elíasson – immer nur Werke, die noch feucht sind.

Es ist meine Auseinandersetzung mit der Gegenwart, die ich eigentlich nicht verstehe, wenn sie mir in der Tagesschau gezeigt wird. Aber die Künstler schaffen mir Übersetzungshilfen, um meine Gegenwart zu verstehen. Deswegen ist unsere Sammlung immer eine Sammlung, in dem zum Zeitpunkt des Kaufens das Werk auch immer aus dieser Zeit ist.

 

Das Wir, das Sie sprachlich benutzen, ist kein pluralis majestatis. Die Sammlung wird von Ihnen und Ihrer Frau gemeinsam betrieben. Wie entscheiden Sie, was gekauft wird und was nicht?

Es gibt natürlich keine Konsensentscheidungen. Das wäre tödlich beim Sammeln, jede radikale Autorenschaft auch des Sammlers würde durch einen Abstimmungsprozess, der möglicherweise notwendig ist, beeinträchtigt. Es gibt drei Sammlungen Boros: die von Christian, die von Karen und eine Anzahl, die wir gemeinsam finden. Niemals würde meine Frau, wenn ich was wichtig finde, sagen: „Liebling, das machen wir nicht“ – oder andersrum. Sehr wohl ist meine Frau ein Korrektiv – oder ich bei ihr. Aber nicht abschwächend, sondern verstärkend. Meine Frau radikalisiert mich, und wenn sie fragt: „Ist es wirklich wichtig?“, sage ich: „Das ist wahnsinnig wichtig“. Dann sagt sie: „Verdammt nochmal, wenn es dir wichtig ist, kaufe nicht das kleine Bild, sondern das Hauptwerk der Ausstellung!“. So geht sie vor. Auch wenn sie es nicht gut findet, würde sie nie sagen: „Ach, du hast dich jetzt für ein mittelgroßes Bild entschieden, ich finde den Künstler nicht gut, kann doch das kleine reichen.“ So gehen wir vor. Dann kommen eben drei Sammlungen heraus. Meine Frau hat als allererste bei uns wirklich einen großen Schwerpunkt auf weibliche Künstler gelenkt und mich da sehr bereichert. Ich habe am Anfang fast nur diese wilden Jungs gesammelt. Heute merke ich, mit welcher Komplexität Frauen arbeiten. Das habe ich meiner Frau zu verdanken.

 

Gab oder gibt es einen Plan, wie Sie Ihre Sammlung aufgebaut haben? Haben Sie den Leitfaden für den beginnenden Kunstsammler?

Nein, ich hatte das große Vergnügen, einen tollen Lehrer zu haben: Bazon Brock. Er vermittelte mir einige Grundparameter. Z. B. sich nicht für das Bequeme zu entscheiden, seiner Irritation Raum zu geben und nicht abzulehnen, wenn etwas nicht verstanden wird, sich nicht zu wiederholen. Es unbequem lassen. Das führt – hoffe ich doch sehr – zu einer qualitätsvollen Sammlung, die dann nicht nur mich irritiert oder die Grenzen verschieben lässt, sondern im besten Falle auch die Gesellschaft. Nur Künstler, die Grenzen verschieben, sind es wert, für die Gesellschaft als Bereicherung empfunden zu werden, weil sie uns weiterbringen. Grenzen verschieben heißt Weiterbringen.

Wir interessieren uns für Menschen, die künstlerisch tätig sind. Für Menschen, nicht für die beschmierte Leinwand.

Wir interessieren uns für die Gedanken in Form von den Werken. Dann lernen wir einen Künstler kennen. Wenn wir ihn komplex genug finden, bleiben wir dran. Wenn wir aber ein schönes Bild sehen, dann die Person kennenlernen und es ist eine Person, die nur rein artistisch unterwegs ist und nicht den Tiefgang hat, der uns fasziniert, sagen wir klar: „Nein, das ist nicht die Mühe wert.“

Sie machen Teile Ihrer Sammlung immer wieder öffentlich, im Bunker in der Berliner Reinhardtstrasse. Es gibt auch Sammler die entziehen mit dem Kauf Kunstwerke dem öffentlichen Raum.

Natürlich merkten meine Frau und ich, dass, wenn wir etwas kaufen und unters Bett legen oder in ein Lager tun, es ein Entzug ist. Dafür haben die Künstler nicht die Leinwand bearbeitet. Für uns war mit 40 Jahren relativ klar, dass wir das teilen müssen.

Deswegen diese Mühe, Räume zu finden, um die Kunst, die wir wichtig finden, mit anderen zu teilen und zu erörtern. Wir begnügen uns nicht damit, die Sachen für uns allein wertzuschätzen, zu genießen.

Wir haben mittlerweile 36 Vermittler, die von uns geschult werden, um das, was wir als relevant betrachten, anderen Menschen zu erklären. Es ist eine fast zwangsbeglückerische Mission.

 

Verändern sich Sammlertypen? Gibt es, im Vergleich zur Situation vor 30 Jahren, zunehmend den Typus des Sammlers, der Kunst als Investition, als Aktie an der Wand oder als Repräsentationsobjekt betrachtet?

Ganz entschieden: ja. Als ich in den 1990er Jahren angefangen habe zu sammeln, galt ich viele, viele, viele Jahre als jüngster Sammler Deutschlands. Allein auf weiter Flur. War nur umgeben von fünf älteren Herren, die wie Connaisseure gesammelt haben. Sammeln war nicht der Volkssport, der es heute ist. Heute ist das Sammeln vielfach reiner Distinktionsgewinn. Sammler gehen mit Listen über die Kunstmessen. Da stehen Namen drauf: Rolex, Gucci, Patek Philippe, Cartier – nur eben übersetzt auf die „Künstlermarken“. Denen ist es völlig egal, was für ein Werk das ist, aber sie wollen eben einen Damian Hirst oder einen Neo Rauch, sie wollen diese Namen.

 

Wie verändert Corona die Kunstrezeption und auch Ihre Möglichkeiten als Sammler? Physische Begegnungen werden reduziert, gleichzeitig wächst über die digitale Kommunikation der Zugang zum Abbild. Was verändert das strukturell?

Wir sind noch mittendrin im Prozess. Fast täglich mache ich mir Gedanken: Wie reagiert die Kunstwelt, die bildende Kunst auf Corona? Machen die so weiter wie immer, jetzt ungestörter und mit mehr Zeit? Gibt es Denkmodelle von Künstlern, die unsere Gesellschaft weiterbringen? Entsteht so was wie die „Guernica“ von Picasso als Reaktion auf Corona in der Kunst? Das sind Dinge, die ich noch nicht beantworten kann.

Aber: Wir haben im Berliner Club Berghain eine große Corona-Ausstellung organisiert. 118 Künstler wurden eingeladen, Werke zu zeigen, an denen sie seit März 2018 arbeiten. Wir wollten auch prüfen: Gibt es Denkmodelle aus der bildenden Kunst, die uns in dieser Krise weiterhelfen?

Eins kann ich schon sagen: Es gibt ein neues Wir-Gefühl in der Kunst. Die konkurrierenden Mätzchen haben aufgehört. Wenn man noch vor einem Jahr eine Ausstellung gemacht hätte mit Rosemarie Trockel, Isa Genzken, Ólafur Elíasson, da hätten die gefragt: Wer ist noch in der Ausstellung? Wer ist der Kurator? Wie hoch ist das Budget? Wer macht das Licht, wer macht die Architektur? Gibt es einen Katalog? Wo wandert die Ausstellung danach hin? – um zu prüfen, ob es das wert ist.

Das wären alles Bedingungen. Corona schafft eins: Bedingungslosigkeit. Wir hörten von allen Künstlern nur eine Antwort, nämlich uneingeschränktes Ja.

 

Private Kunstsammlungen sind immer nur Privatbesitz auf Zeit. Die meisten Sammler stehen irgendwann vor der Frage: Was wird damit, wenn ich nicht mehr bin? Was halten Sie von Sammlern, die Ihre Sammlungen zwar in öffentliche Hände geben wollen – aber nur konditioniert, mit erheblichen Auflagen?

Das beobachten wir ganz genau. Sie sprechen von konditioniert, ich würde nochmals das Wort „Bedingung“ nennen. Wenn man vererbt oder schenkt mit Bedingungen, hat das in meinen Augen etwas sehr Hässliches. Eine Person, die wir wahnsinnig schätzen, ist Erika Hoffmann. Sie schenkt ihre Sammlung nach Dresden, verlangt a) keinen Neubau für die Sammlung, b) nicht den Namen eines Flügels des Gebäudes nach ihrem Namen, c) nicht, dass 50 Prozent immer ausgestellt werden. Sie sagt, wenn die Sachen im Keller landen, weil sie jetzt nicht passen, werden sie vielleicht in hundert Jahren wieder herausgeholt und dann werden sie passen. Das müssen die jeweiligen Direktoren entscheiden. Das ist ein bedingungsloses Weitergeben, was ich sehr schätze. Diese eitlen Verewigungsmodelle, dass die Sammlung zusammenbleibt, warum? Dass Gebäude wie große Mausoleen agieren ist hochgradig peinlich.

 

Ein Zitat von Christian Boros von 2013. Ihre Werbeagentur fungierte zunehmend als Kommunikationsberatung, auch für politische Akteure. In diesem Kontext sagten Sie: „Ich finde Politik allgemein sehr interessant. In zehn Jahren wäre ich selbst gern als Politiker tätig, allerdings parteilos. Der Posten des Kulturministers würde mich interessieren.“ Gilt der Satz noch? In drei Jahren wäre es soweit …

Er würde mich in der Tat immer noch sehr interessieren, wobei mir mittlerweile schmerzlich bewusst geworden ist, dass Politik ein großer Konsens ist. Ich habe Angst, dass ich zu ungeduldig, zu radikal bin und leiden würde, wenn von 100 Prozent meines Willens aufgrund von demokratischen Abstimmungs- und Pluralismusgedanken nur noch 30 Prozent übrigbleiben. Die schöne demokratische Idee führt dazu, dass Tätertypen in ihren Ideen Abstriche machen müssen. Ich fürchte fast, dass mich das frustrieren würde. Aber: Der Reiz ist da.

 

Brauchen wir ein Bundeskulturministerium?

Unbedingt. Wir können nicht die Deutung von Krisen den Virologen überlassen. Wir können nicht nur so wichtige Berufsstände wie Krankenpfleger und Ärzte als systemrelevant betrachten. Kunst ist nicht minder systemrelevant. Das Schaffen von Alternativen, das Entwickeln von neuen Denkmodellen ist für die Gesellschaft überlebensnotwendig. Ein Ministerium, das dafür kämpft, neben dem Gesundheitsministerium und Landwirtschaftsministerium und anderen wichtigen Institutionen, würde der Gesellschaft sehr guttun.

 

Vielen Dank.

 

Dieser Text ist zuerst erschienen in Politik & Kultur 12/2020-01/2021.

Christian Boros & Hans Jessen
Christian Boros ist Medienunternehmer und Kunstsammler sowie Geschäftsführer der Boros Foundation. Hans Jessen ist freier Publizist und ehemaliger ARD-Hauptstadtkorrespondent.
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