Zwei Seiten einer Medaille

(Bau)Kultur in der Stadt

Städte sind zentrale Orte der Kultur – Kultur ist, neben dem Handel, der Grund für Stadt! Kultur und Stadt sind also zwei Seiten einer Medaille. Diese Feststellung wird allerdings gegenwärtig überschattet von einer schweren Krise der Stadt, namentlich der Stadtzentren – die in den USA Downtown, in Europa wahlweise City, Innenstadt, Altstadt oder „Historisches Zentrum“ genannt werden. Nicht erst seit der Corona-Pandemie brechen dort ortsfeste Handelsnutzungen weg und werden durch Billiganbieter oder vielerorts auch durch Leerstand ersetzt. Auch die vor wenigen Jahren noch so beliebten Shopping Malls büßen ihre Anziehungskraft zunehmend ein.

 

Hier sind Konzepte gefragt, die weit über die üblichen Logiken und Zyklen des Immobilienmarkts hinausgreifen müssen. Die planenden Berufe, Architektinnen und Stadtplaner, sind gefordert, zusammen mit der Wirtschaft auf diese Veränderungen zu reagieren – kreativ, ungewöhnlich, provokant und vor allem nachhaltig. Warum sollte ein denkmalgeschütztes 1950er-Jahre-Kaufhaus nicht in ein Stadtteilzentrum mit sozialen und kulturellen Funktionen für die Bevölkerung umgenutzt werden können? Kleinteiliger Handel und Dienstleistungen; Behörden, Bibliothek, Poststelle, Einkauf für den täglichen Bedarf und vor allem wohnnahe Kulturangebote in fußläufiger Entfernung – für dieses Ideal wurde das Schlagwort von der „15-Minuten-Stadt“ gefunden.

 

Kulturschaffende sind die großen Verlierer der Pandemie, ihre Orte bedroht: Theater, Kinos, Kleinkunstbühnen, Clubs sind geschlossen und bleiben es womöglich dauerhaft. Dabei ist die Kultur abhängig von der Stadt: Die Stadt liefert die Frequenz, die Quantität an Publikum. Städte bieten eine offene Atmosphäre und damit die Möglichkeit zum freien Austausch.

 

Das war schon im Mittelalter so, als reisende Künstler, Hofnarren, Minnesänger und Geschichtenerzähler von Markt zu Markt zogen. Die Kultur kam temporär in die ansonsten von Klerus und Adel dominierte Stadt; Daniel Kehlmanns Roman „Tyll“ lässt diese Zeit lebendig werden. Im Zuge der Aufklärung etablierten sich erste weltliche Kulturbauten in der Stadt, aber erst mit der Industrialisierung und der damit verbundenen Schleifung der Befestigungsanlagen rund um die Altstädte wurden tatsächlich auch im stadträumlichen Sinne Freiräume für die bürgerliche Kultur etabliert. Auf den ehemaligen Glacis entstanden durchaus monumentale Theater und Museen, dazu Universitäten, Stadthallen, Zoos und Stadtparks, nicht nur an der Wiener Ringstraße, sondern in nahezu jeder mitteleuropäischen Stadt. Diese Tradition des 19. Jahrhunderts setzte sich im 20. Jahrhundert fort: von experimentellen Theaterbauten der avantgardistischen 1920er Jahre über die Tempel der Volksaufklärung wie dem Dresdner Hygienemuseum und den unzähligen volkseigenen Kulturhäusern in der DDR bis hin zu den ikonischen Kulturpalästen der demokratischen Gesellschaft wie der Sydney Opera oder der Elbphilharmonie, deren skandalöse Bau-Geschichten schnell vergessen wurden, nachdem sie schließlich fertiggestellt waren und benutzt werden konnten.

 

Überdies waren Kulturbauten in der Ära der Postmoderne die zentrale Aufgabe einer gestalterisch anspruchsvollen Bauszene: Am Frankfurter Mainufer wurden reihenweise ambitionierte Museumsbauten errichtet, teilweise von internationalen „Stararchitekten“. Das Museum hatte, so schien es, endgültig den Kirchenbau als prägende Repräsentations- und Identifikations-Bauaufgabe der Zivilgesellschaft abgelöst. Viele der Museumsneubauten wurden und werden – unabhängig von

ihrem Inhalt – als zeitgenössische architektonische Sehenswürdigkeiten wahrgenommen und besucht.

 

Kultur ist wichtig für den gesellschaftlichen Diskurs, das ist im vergangenen Corona-Jahr vielen wieder bewusst geworden. Kulturbauten sind wichtige Träger der Stadt, sie ziehen Besucherinnen und Besucher an und beleben die Innenstädte. Das kann auch in einem sehr kleinen Maßstab funktionieren: In Blaibach, einer Gemeinde in der strukturschwachen Oberpfalz, wurde aus bürgerschaftlichem Engagement ein architektonisch anspruchsvolles Konzerthaus nach Entwurf des Münchener Architekten Peter Haimerl gebaut, das viel mehr ist als eine Hülle für Musik. Das Konzerthaus ist die bauliche Konkretisierung einer umfassenden Idee von Kultur für alle sozialen Schichten und für alle Geschmäcker in der Provinz. Im Verbund mit der gelungenen Architektur hat diese Idee den Hauptpreis des vom Bund Deutscher Architektinnen und Architekten (BDA) getragenen, bundesweit ausgelobten Architekturpreises „Nike“ im Jahr 2016 bekommen. Hier wurde Kultur exemplarisch zur Baukultur.

 

In diesem Sinne sollten wir uns aufmachen, überall in unseren Städten die Kultur zu schützen und zu stärken, um die Krise der Innenstädte zu überwinden.

 

Dieser Text ist zuerst erschienen in Politik & Kultur 2/2021.

Susanne Wartzeck
Susanne Wartzeck ist Architektin und Präsidentin des Bundes Deutscher Architektinnen und Architekten BDA.
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