So retten wir unsere Innenstädte!

Vier Fragen an Stefan Genth, Ingrid Hartges und Olaf Zimmermann zur Zukunft der deutschen Cities

Am 11. November 2020 haben Bündnis 90/Die Grünen, HDE, DEHOGA und Deutscher Kulturrat gemeinsam zehn Forderungen zu Rettung der Innenstädte an die Bundesregierung vorgelegt.

 

Hier schildern die Geschäftsführerinnen und Geschäftsführer der Verbände ihre unterschiedliche Motivation zur Beteiligung und ihre individuellen perspektiven auf das gemeinsame Anliegen.

 

1 Was macht für Sie die deutsche

Innenstadt aus?

 

Stefan Genth: Innenstädte stehen für ein lebendiges Treiben und die Begegnung untereinander. Sie sind Kommunikationsorte mit einem vielfältigen Angebot. Dazu gehören insbesondere die Geschäfte des Einzelhandels, aber auch die Gastronomie, die vielen privaten und öffentlichen Dienstleistungen, Kultur- und Bildungsangebote. Für eine wachsende Zahl von Bewohnern prägt auch das Wohnen die Innenstädte.

 

Ingrid Hartges: Innenstädte sind die Herzen unserer Städte, sie sind beliebtes Ausflugsziel für die Menschen aus den Regionen wie für Touristen aus aller Welt. Bestenfalls sind sie attraktive „Marktplätze“, die ein vielfältiges und buntes Angebot von Einzelhandel und Gastronomie bieten. Zur Attraktivitätssteigerung der Innenstädte tragen insbesondere Baudenkmäler, Theater, Kinos und Museen maßgeblich bei. Neben den Säulen Handel und Gastronomie sind Architektur, Kunst und Kultur prägend für erfolgreiche Innenstädte. Gute Innenstadtpolitik zeichnet sich zudem durch eine intelligente Verkehrspolitik sowie vernünftige Sauberkeits- und Sicherheitskonzepte aus.

 

Olaf Zimmermann: Die Innenstadt ist das Herz jeder Stadt. Sie versorgt Bewohner und Gäste mit Waren und Dienstleistungen, mit Begegnung und Austausch, mit Bildung und Kultur. Gerade auch der Kultur-Einzelhandel wie Buchhandlungen, Galerien oder Musikgeschäfte, Dritte Orte wie Museen und Bibliotheken, Kultur- und Kunstvereine, Musikschulen, Geschichtswerkstätten und besonders Künstlerinnen und Künstler prägen unsere Innenstädte. Zusammen geben sie ihr ein individuelles Gesicht.

 

2 Wie beurteilen Sie die aktuelle Situation deutscher Innenstädte?

 

Stefan Genth: Der erste und zweite Lockdown haben dafür gesorgt, dass kein innerstädtischer Händler ohne Sorgen ist. Viele stehen am Rand ihrer Existenz, sind unverschuldet in Not geraten. Aktuell sind die deutschen Innenstädte daher in großer Gefahr. Doch von den Auswirkungen der Pandemie sind sie unterschiedlich stark betroffen. Die Situation und Perspektive der Innenstädte hängt auch von ihrem Branchenmix, dem Flächenmanagement, ihrer baulichen Attraktivität und ihrer Erreichbarkeit mit unterschiedlichen Verkehrsmitteln ab. Wichtig ist auch eine intensive Zusammenarbeit von öffentlichen und privaten Verantwortungsträgern. Alle müssen sich gemeinsam dem Ziel der vitalen Innenstädte verschreiben. Ansonsten wird es aufgrund der tiefgreifenden Metamorphose der Innenstädte schwer werden.

Folgende Herausforderungen stellen sich aktuell den Innenstädten, die sich schon immer weiterentwickelt und den sich stetig verändernden Anforderungen angepasst haben: Handel und Innenstädte sehen sich mit der Digitalisierung konfrontiert, einer Herausforderung mit bislang nicht dagewesener Dynamik und Geschwindigkeit. Die Pandemie hat diesen gesellschaftlichen Trend erheblich beschleunigt. Online-Shopping und Homeoffice stellen Innenstädte in ihrer Eigenschaft als Konzentration hochrangig zentraler Funktionen infrage. Die vergangenen Monate haben jedoch gezeigt, dass den Menschen dabei viel Lebensqualität verloren geht. Daher ist es so wichtig, dass Innenstädte und innerstädtische Händler eine Perspektive erhalten. Und das geht in der pandemiebedingten Existenznot in vielen Fällen nur mit staatlicher Unterstützung – auch bei der Digitalisierung.

 

Ingrid Hartges: Bereits vor Corona gab es kleine wie große Städte, um deren Zukunft man sich ernsthafte Sorgen machen musste. Corona hat diesen Negativtrend beschleunigt. Die oben genannten Leistungsträger, die für Vielfalt und Attraktivität der Innenstädte stehen, sind seit einem Jahr massiv von den Maßnahmen zur Bekämpfung der Corona-Pandemie betroffen. Aktuell wissen wir nicht, wie viele diese dramatische Krise überleben werden. Den verfehlten Entwicklungen der Vergangenheit muss dringend entgegengesteuert werden. Die aktuelle Situation hat einmal mehr verdeutlicht, dass Menschen fehlen, die in den Zentren wohnen. Von elementarer Bedeutung wird es sein, ob es gelingt, wieder eine Angebotsvielfalt zu schaffen. Auch jeder Bürger ist gefordert, sein Einkaufsverhalten zu überprüfen und die kleinen und mittelständischen Betriebe vor Ort neu wertzuschätzen. Große Onlineplattformen leisten definitiv keinen Beitrag zur Attraktivität der Innenstädte.

 

Olaf Zimmermann: Menschen ziehen aus den Innenstädten weg, die Mieten sind schlicht unbezahlbar, auch viele kleinere Gewerbetreibende können sich die Mieten nicht mehr leisten – die Coronakrise verstärkt diese Tendenzen noch einmal radikal. Schon vor der Krise konnten oft nur die großen Geschäftsketten sich den Platz in den Einkaufszonen noch leisten. Egal ob in Berlin, Frankfurt am Main, Leipzig, Essen, München – schon jetzt sehen die Innenstädte viel zu gleich aus. Aber jetzt, im Lockdown ist die abnehmende kulturelle Vielfalt in unseren Zentren unübersehbar, ein schmerzlicher Verlust, der beim Gang durch die Innenstädte selbst körperlich spürbar ist.

Wir müssen unsere Innenstädte jetzt aktiv gestalten und für ein partizipatives Miteinander umdenken, denn die Veränderungen stehen unabwendbar bevor. Kultureinrichtung und Kultureinzelhandel sind die Seele der Innenstädte. Aber nur gemeinsam mit der Gastronomie und dem anderen Einzelhandel werden wir die Innenstädte am Leben halten können.

Außerdem braucht es wieder mehr Dritte Orte abseits des Konsums in den Zentren, in denen wir einander begegnen können. Wenn sich bestimmte soziale Gruppen in bestimmten Vierteln vornehmlich ansiedeln, dann fungieren die Innenstädte oftmals als einer der wenigen Orte, die für alle da sind. Ihnen kommt eine wichtige Funktion für kulturelle Integration und gesellschaftlichen Zusammenhalt zu.

 

Stefan Genth, Ingrid Hartges & Olaf Zimmermann
Stefan Genth ist Hauptgeschäftsführer des Handelsverbands Deutschland. Ingrid Hartges ist Hauptgeschäftsführerin des DEHOGA Bundesverbands. Olaf Zimmermann ist Geschäftsführer des Deutschen Kulturrates.
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