Corona. Die City ist eine virologische Streubombe, sie lebt vom Publikumsverkehr. Ohne Lockdown ginge die Innenstadt an Pandemien zugrunde; mit Lockdown ebenso?
Shopping ist „die“ Attraktion moderner Innenstädte. Die ökonomische Nachhaltigkeit des Konzepts wird seit Langem bezweifelt. Corona wirkt nun wie ein Brandbeschleuniger. Der Handelsverband Deutschland (HDE)erwartet eine Insolvenzwelle im Einzelhandel. Die Eigenkapitalbasis der Geschäfte – außer Lebensmittel – sei weitgehend aufgezehrt; mehr als 65 Prozent seien akut existenziell bedroht. Geschäftsaufgaben, Leerstände: „Es droht das Aus für bis zu 50.000 Geschäfte“, und damit „eine Verödung der Innenstädte“, so der HDE in einer Meldung vom 4. Januar 2021.
Verändert sich damit das Profil der Innenstadt – grundlegend? Pandemie-Prävention wird eine exemplarische Qualität künftiger Innenstadt sein. Aber Prävention wird das Erscheinungsbild des Orts nicht neu prägen; niemand will ständig „Seuchen-Gefahr“ vor Augen haben. Wofür steht die neue Innenstadt?
Soziokultur. Zwischenmenschlichkeit im urbanen Raum
Innenstädte ziehen Menschen aus anderen Regionen und fernen Ländern an, sie bringen Ethnien und Kulturen zusammen, sie verbinden und tragen zu Versöhnung bei. Insgesamt ist die Bilanz moderner Urbanität in sozialer Nachhaltigkeit jedoch bedenklich. Citys veranlassen Menschen vor allem anderen zu ausgiebigem Shopping und passivem Konsum. Stadt erzeugt Anonymität. Affekt-Kriminalität und Gewaltverbrechen steigen an. Vereinsamung greift um sich: In Hamburg sind mehr als 50 Prozent Single-Haushalte.
80 Prozent der Einzelhandelsgeschäfte sind in vielen Städten nur Filialen einer fernen Zentrale. Die Kommerzialisierung der Innenstädte im großen Stil löst soziokulturelle Ankerplätze auf, verdrängt Bewohnende und untergräbt die lokale Individualität. Falls sie nicht starke historische Substanz davor bewahrt, wird ihre Identität trivial. Wem geben solche Innenstädte Heimat?
Wandel – siehe Klima, Pandemie, Digitalisierung – erzeugt psychischen Druck und strapaziert den gesellschaftlichen Zusammenhalt. Konsum-Kult, der heutige Innenstädte prägt, lockt Menschen in hedonistische Vereinzelung: Künftige Innenstädte brauchen aber Bewohnende, die gemeinschaftliche Handlungsfreude an den Tag legen.
Bürgerschaftliches Engagement und Partizipation müssen evident sein und das Bild moderner Innenstädte bestimmen. Dann wird die neue Innenstadt ein zeremonieller Ort für integrierende, demokratische Soziokultur werden.
Klima- und Natur-Integration
Das Klima-Desaster zwingt zum Handeln. Ökologische Intelligenz wird ein Merkmal der neuen Innenstadt werden: bezogen auf Energie, Wasser, Emissionen, auch auf Temperaturregulation. Die Zukunft kündigt schweißtreibende Tage an.
Ökologische Intelligenz gehört zum symbolischen Habitus und ikonografischen Set der neuen Innenstadt. Notwendigerweise, denn Innenstadt repräsentiert Werte und Weltanschauungsepochen der jeweiligen Zivilisation und Kultur.
Anthropozän. Erstmals gräbt eine einzelne Gattung, der Mensch, dominante Spuren in ein erdgeschichtliches Zeitalter; so wirkungsmächtig war noch kein anderes Lebewesen. Aber der Mensch offenbart sich als Goethes Zauberlehrling, der Kräfte freisetzt, die seine Fähigkeiten weit übersteigen. Klima. Wasser. Mikroplastik. Wir machen aus der Erde eine Müllhalde, und ziehen dann um?
Die neue Innenstadt muss ein wegweisendes Statement zum Anthropozän werden. Die Smart City, wie sie in Fernost und Saudi-Arabien aus dem Boden entsteht, feiert Urbanität als grandioses Menschenwerk. Und degradiert Natur zur Marginalie: Homo Sapiens, an sich selbst fasziniert – abgekoppelt vom Rest der Welt?
Mit menschlicher Hybris verbindet uns eine tragische Historie. Es liegt in der anthropologischen Dynamik der europäischen Kultur, auf einen anderen Weg zu setzen. Die neue Innenstadt kann ein Signal werden: für „Integration“ und „Versöhnung“? Versöhnung mit der Natur? Mit der Menschheit? Mit der Zukunft.
Dieser Text ist zuerst erschienen in Politik & Kultur 2/2021.