Radikaldemokratisch

Theater im städtischen Raum

Die neue Intendantin des Schauspiels Dortmund, Julia Wissert, hat mit ihrem ersten Stück“2170 – Was wird die Stadt gewesen sein, in der wir leben werden“ das Theater raus aus dem Saal und rein in den öffentlichen Raum Dortmunds geholt. Sandra Winzer spricht mit ihr über Theater, gesellschaftliche Verantwortung, Stadtkultur und mehr.

 

Sandra Winzer: Frau Wissert, seit 2020 sind Sie Intendantin des Schauspiels Dortmund. Sie sagten, es gebe keinen besseren Ort für eine Intendanz. Warum?

Julia Wissert: Dortmund hat uns mit offenen Armen empfangen. Wir haben eine hohe Akzeptanz durch das Publikum erlebt. Im Theater und auf der Straße wurde ich angesprochen, auch von Politikerinnen und Politikern. Und das mit Wertschätzung in Richtung meines Vorgängers Kay Voges. Ein Mann sagte zu mir auf einer „Black Lives Matter“-Demo: „Wir mögen Kay sehr, aber wir freuen uns trotzdem auf Sie!“ In einem solchen Klima anzukommen, ist sehr schön.

 

Und die Stadt selbst?

Nach meinem ersten Jahr als Neu-Dortmunderin fällt mir auf: Die Stadt ist immer noch dabei, ihre Identität zu entdecken. Der berühmte Transformationsprozess des Ruhrgebiets ist noch lange nicht abgeschlossen. Bislang wird, wenn man von Dortmund spricht, oft vom BVB, vom Technologiezentrum oder von der Stadt als Ausbildungsstandort gesprochen. Ich weiß aber: Dortmund könnte noch mehr sein. Es entsteht ein Raum, der von aufstrebenden Kunstschaffenden gefüllt werden kann. Aktuell gibt es eine große Chance, die Entwicklung der Stadt mitzugestalten. Dortmund scheint offen dafür zu sein. Das hat großes Potenzial.

 

Als Intendantin haben Sie eine gesellschaftliche Verantwortung. Sicher haben Sie sich vor Amtsantritt gefragt, wofür Sie stehen möchten. Welche Art von Intendantin möchten Sie sein?

Gerade erst habe ich ein Buch entdeckt: „Das radikaldemokratische Museum“ von Nora Sternfeld. Seitdem bin ich total geflasht, weil ich Frau Sternfeld sagen möchte: Ich würde gern das radikaldemokratische Theater in den Raum stellen. Eine Programm- und Kurationsstruktur, die gesellschaftliche Diskurse reflektiert und bearbeitet. Beispielsweise in der Art, wie das Programm oder die Kolleginnen und Kollegen zusammengestellt werden. Die Autorin spricht von einer antirassistischen, machtkritischen Praxis. Hier möchte ich andocken und eine Intendantin sein, die kollegial, achtsam und wertschätzend ist. Die es aber gleichzeitig schafft, künstlerische und gesellschaftspolitische Diskurse mit ihrem Programm anzustoßen.

 

Solche Diskurse beziehen Sie auch auf Ihr Publikum. Sie wünschen sich eines, das sich mit Fragen der Welt auseinandersetzt. In einem Interview haben Sie mal gesagt: „Unser ideales Publikum sind alle“. Das birgt große Herausforderungen …

Die größte Herausforderung ist, unsichtbare Strukturen sichtbar zu machen. Beispielsweise Dinge, die zu Ausschluss von Menschen führen. Das muss aber ohne Schuldige oder Verantwortliche gelingen. Es geht darum, freizulegen, wodurch Ausschluss entsteht. Wir müssen immer wieder herausfinden, welche Ansprache für das Publikum die richtige ist. Wie unterschiedliche Personengruppen etwas Interessantes in einem Stück für sich entdecken können. Ich denke, das Theater kann ein Raum sein, der unterschiedlichste Geschichten und Interpretationen erlebbar und sichtbar macht – und dadurch auch die Heterogenität einer Stadtgesellschaft wertschätzen und zelebrieren kann.

 

Könnte man sagen: Theater ist „sinnliche Politik“?

Das finde ich wunderschön und klaue es sofort. Zumindest ist Theater für mich eine Möglichkeit, sich sinnlich mit der Welt auseinanderzusetzen. Theater kann unterhalten. Wir müssen aber prüfen: Wer steht auf der Bühne, um diese Unterhaltung zu machen? Sind es ausschließlich weiße, heterosexuelle Personen oder ist es ein Ensemble mit unterschiedlichsten Körpern, Bewegungsmöglichkeiten und Hintergründen, die trotz ihrer Unterschiede gemeinsam eine Komödie spielen? Ich glaube daran, dass die Menschen gemeinsam als Schauspielerinnen und Schauspieler auf der Bühne stehen und nicht als die jeweiligen Identitäten, die sie mitbringen.

 

Ihr erstes Stück „2170 – Was wird die Stadt gewesen sein, in der wir leben werden“ wurde aufgrund der Pandemie im Jahr 2020 komplett in den öffentlichen Raum gelegt. Wie haben Sie das umgesetzt?

Wir haben fünf Autorinnen und Autoren darum gebeten, sich mit der Stadt Dortmund zu verbinden und Zukunftsvisionen vorzustellen. Durch die Pandemie konnten wir nicht mehr im Theater selbst bleiben. Also gingen wir gemeinsam an die Orte, für die die Texte geschrieben wurden. In dieser „theatralen Stadtführung“ konnte sich das Publikum direkt mit dem beschriebenen Platz auseinandersetzen. Mit einem Bahnhof oder einem Hochhaus beispielsweise. Dadurch wurden die Texte sinnlich und konkret. Dieses neue Arbeiten hat es uns möglich gemacht, draußen sichtbar zu sein und in direkten Kontakt mit unserem Publikum zu treten. Das ist es auch, was wir wollen.

 

Begegnung, Kontakt, Dialog – alltägliche Orte werden zu Kunst und Poetik. Die Kultur kam in diesem Fall zum Publikum, nicht umgekehrt. Was kann Theater im öffentlichen Raum außerdem leisten?

Seit meinem Studium bin ich ein großer Fan der Situationisten. Sie verschieben den Blick auf das Alltägliche. Wenn wir um 20 Uhr nachts vor einem pink beleuchteten Hochhaus stehen, über das ein Text eindrücklich vorgetragen wird, werden die Bilder stärker, erlebbar. Sie entstehen nicht mehr nur im Kopf. Gehen die Menschen danach im Alltag an dem Hochhaus vorbei, nehmen sie es bewusster wahr und sagen: „Stimmt, das Hochhaus hat 17 Stockwerke – und alle sind verwaist“. Das wäre dem Publikum vorher möglicherweise nicht aufgefallen.

Julia Wissert & Sandra Winzer
Julia Wissert ist Intendantin des Theaters Dortmund. Sandra Winzer ist ARD-Journalistin beim Hessischen Rundfunk.
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