Gerechtere Stadt durch Bibliotheken

Zur Bedeutung Dritter Orte für die Stadtkultur

Welche Räume braucht eine Stadt? Und gibt es Orte, die eine Stadt sozialer und gerechter machen? Diese Fragen sind Teil von Diskussionen in Politik und Gesellschaft, die sich damit auseinandersetzen, wie das Zusammenleben und die Lebensqualität in Städten gesichert und gefördert werden kann. Öffentliche Räume geraten hierbei regelmäßig in den Fokus, da sie zentrale Orte der Begegnung und des Kontakts sind, die es unterschiedlichen Menschen ermöglichen, sich in der Stadt aufzuhalten und an ihr teilzunehmen.

 

Öffentliche Begegnungsräume waren auch für den Soziologen Henri Lefebvre der Ausgangspunkt, als er 1968 den Slogan „Recht auf Stadt“ formulierte. Dieses Recht beschreibt die Freiheit auf (Um-)Gestaltung der Stadt durch diejenigen, die in ihr leben und sie zu dem machen, was sie ist. Die Stadt ist eine der bedeutendsten Lebensumgebungen, die sich der Mensch selbst geschaffen hat. Aber sie ist nicht gerecht. Öffentliche Orte müssen so gestaltet und genutzt werden, dass sie Treffpunkt und Schauplatz von gemeinschaftlichem Leben werden. Die Teilhabe aller ermöglicht schließlich eine gerechtere Verteilung bestehender Ressourcen unter der Stadtgesellschaft. Zu diesen Gütern zählen laut Lefebvre auch die Mitbestimmung von Bürgerinnen und Bürgern am Stadtgeschehen und der Zugang zu Bildung und Informationen. Öffentliche Räume werden so zu zentralen Austragungsorten des Kampfes für eine soziale und gerechtere Stadt – und somit zu politischen Orten.

 

Dieser oftmals subtile Kampf für Mitbestimmung und Teilhabe findet vor allem an alltäglichen Orten statt, wo Menschen ihre unterschiedlichen Bedürfnisse aushandeln müssen. Es geht also um eine „kleine Politik“: Gängige Begegnungen und soziale Praktiken, durch die Menschen Formen des Zusammenlebens ausprobieren und neu interpretieren, tragen politisches Potenzial in sich, da sie bestehende Machtbeziehungen in der Stadtgesellschaft infrage stellen und verändern – z. B. wer sich wo im Stadtraum (nicht) aufhalten darf.

 

Öffentliche Bibliotheken sind essenzielle Orte dieser „Mikro-Politik“. Denn Bibliotheken sind zentrale Punkte der Begegnung mit Fremdartigkeit und Unterschiedlichkeit, die leichte und zufällige Begegnungen mit als „anders“ empfundenen Personen, Ideen und Weltanschauungen ermöglichen. Solche Orte des niedrigschwelligen sozialen Austauschs findet man in modernen Städten immer weniger. Gleichzeitig sind öffentliche Bibliotheken lebendige Räume, in denen Reibungen, Spannungen und Konflikte, die dieses Aufeinandertreffen von Unterschieden mit sich bringt, ausgetragen werden. Gesellschaftliches Miteinander ist nie einfach. Der Bibliotheksalltag führt also auch gesellschaftliche Probleme vor Augen und, im besten Falle, Wege aus ihnen heraus, indem hier Stadtleben neu organisiert und stabilisiert wird, das soziale, politische und ökologische Lebensrealitäten mitdenkt. Dieses Gestaltungsvermögen ist insbesondere für marginalisierte Gruppen wichtig, so wie Obdachlose, Migrantinnen und Migranten, Flüchtlinge und Asylsuchende, um an Öffentlichkeit und Gesellschaft teilzunehmen und Stadträume mit zu entwickeln.

 

Mit dem Projekt „Die Bibliothek und das Recht auf Stadt“ spürt die Universität Bremen gemeinsam mit der Stadtbibliothek Bremen der Bedeutung von öffentlichen Bibliotheken in der heutigen Stadt und Gesellschaft nach. Öffentliche Bibliotheken werden häufig als selbstverständlicher und fester Bestandteil der städtischen Infrastruktur wahrgenommen. Oder besser gesagt, nicht wahrgenommen, da Menschen das Offensichtliche meist übersehen – ein interessanter Umstand gerade im Falle von Bibliotheken, deren Öffentlichkeit ja durchaus zerbrechlich ist, wie die Coronakrise gezeigt hat. In diesem Sinne untersucht das Projekt die Bibliothek als besonderen Ort in der Stadt, den es zu schützen lohnt, und ihre Relevanz für eine gesunde, inklusive und funktionierende Stadtgesellschaft, an denen Menschen ihr Recht auf Stadt ausüben.

 

Dies ist auch politisch dringend notwendig. Bibliotheken geraten in der heutigen politischen Landschaft vielerorts zunehmend unter Druck. Die steigende neoliberale Ausrichtung von Politik, Sparmaßnahmen und wirtschaftlichem Denken in der Stadtplanung und -entwicklung bekommen insbesondere kleinere Bibliotheken und Zweigstellen zu spüren, obwohl gerade sie es sind, die Gemeinschaft und Bildung in Stadtteile und Randgebiete hineintragen.

 

Es ist daher höchste Zeit, die Zukunft öffentlicher Bibliotheken genauer zu untersuchen. In der Forschung zu vertiefende Themen sind:

 

Die Bibliothek als „Wohnzimmer“

 

Für viele ist die Bibliothek ein Ort der Gemeinschaft und des Kontakts, ein wichtiger „Dritter Ort“ in der Stadt, der es Menschen unterschiedlicher Gesinnung und Herkunft ermöglicht sich zu begegnen und auszutauschen, auch über Unterschiede hinweg. Diese Begegnungen sind nicht immer frei von Spannung, Konfrontation und Reibung. Dennoch funktioniert die Bibliothek oftmals als Ort der Diversität und Verbindung. Grund hierfür sind unter anderem die wiederholten Begegnungen und bekannten Situationen, die Gefühle und Strukturen der Anerkennung, Sicherheit und des Vertrauens fördern, auch außerhalb der Bibliothek.

 

Bedeutung öffentlicher Bibliotheken in Krisenzeiten

 

Krisen unterschiedlicher Art prägen Stadt und Gesellschaft. Bibliotheken helfen vielen, besser mit Krisen umzugehen und/oder sie zu überwinden. Denn die Chance auf Kontakt, Beschäftigung und Aufenthalt nährt die Widerstandsfähigkeit. Das funktioniert sogar während der Coronakrise, die normales Verhalten in der Bibliothek stark verzerrt und vielerorts zum weitgehenden Zerfall der Öffentlichkeit geführt hat. In der Bibliothek suchen und finden Menschen weiterhin soziale Nähe und Dienstleistungen, selbst wenn stark eingeschränkt. Dennoch bestimmen auch Verunsicherung, Misstrauen und Angst den neuen Bibliotheksalltag, und viele sehnen sich nach der „echten“ Bibliothek.

 

Die Bibliothek der Zukunft

 

Digitale Innovationen sind wichtig und bereichern, ebenso das soziale Miteinander. Einige fürchten die voll-digitalisierte Bibliothek der Zukunft und heben die Bedeutung von persönlichem Kontakt beim Bibliotheksbesuch hervor, der gerade digitalen Begegnungen Wärme und Menschlichkeit einhaucht.

 

Trotzdem begrüßen viele die zunehmende Digitalisierung des Aufenthalts und der Bestände, fragen sich aber auch, welche neuen Hindernisse und Trennungslinien hierdurch entstehen. Die Bibliothek der Zukunft muss beides können, denn sie ist grundlegende digitale und soziale Infrastruktur in der Stadt.

 

Dieser Text ist zuerst erschienen in Politik & Kultur 2/2021.

Melike Peterson
Melike Peterson ist Postdoktorandin am Institut für Geographie an der Universität Bremen.
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