Auseinanderfallende soziale Welten

Aktuelles aus der Stadtforschung

Kontakt, Nähe und Austausch – wie werden sie in Zeiten der Pandemie von so vielen Menschen vermisst! Durch den Lockdown wird ersichtlich, wie sehr wir in allen Bereichen des Lebens davon abhängen. Die alltäglichen Begegnungen – intensiver oder oberflächlicher Art – sind zu einer gesellschaftlichen Selbstverständlichkeit geworden, die nun schmerzhaft fehlt. Ohne Kontakte keine zwischenmenschlichen Beziehungen. Ohne Austauschmöglichkeiten keine Sorge und Hilfe. Ohne Nähe keine sinnvolle Kommunikation. Die Möglichkeiten der Begegnung von Angesicht zu Angesicht sind die Grundbedingung, sagte schon der französische Soziologe Émile Durkheim, für das Entstehen von Solidarität zwischen Fremden in den Städten. Durkheim beobachtete das Entstehen der Großstädte während der industriellen Revolution und fragte sich, wie die „organische“ Hilfe, deren sich Menschen im Dorfleben durch familiäre Bande sicher waren, sich in der anonymen Stadt wiederherstellen lassen könnte. Die Stadt ist gesellschaftlich gesehen für ihn janusköpfig: Einerseits muss der Einzelne sich aktiv um neue Beziehungen und Unterstützung bemühen, andererseits konnte durch das organisierte Herstellen einer „mechanischen“ Solidarität eine kollektive Kraft entstehen, die neue Freiräume und Lebenschancen ermöglicht.

 

Die Stadt der Industrialisierung und der Moderne hat sich seit Durkheims Analyse weiterentwickelt und steht vor neuen Herausforderungen. Die Urbanisierung durch Landflucht, wie sie für das 19. Jahrhundert insbesondere für das „späte“ Deutschland kennzeichnend war, ist längst nicht mehr für die meisten Bürgerinnen und Bürger präsent. Der Urbanisierung folgte die Entwicklung eines komplexen institutionellen Rahmens, in dem die Beziehungen zwischen den Städtern geregelt und eingerahmt wurden. Der soziale Zusammenhang in der Stadt basiert darauf, dass die mechanische Solidarität Durkheims tatsächlich aufgebaut wurde. Damit verbunden sind viele Vorstellungen darüber, wie man sich als Bürger, Nachbar, Kunde, öffentliche oder private Person in der Stadt zu verhalten hat und was von den unterschiedlichen Institutionen wie Polizei, Stadtverwaltung, Schulen und vielen mehr zu erwarten ist. Diese Vorstellungen über das Leben in der Stadt werden von klein auf aufgenommen und als selbstverständlich vermittelt. Nach der historischen Urbanisierung hat sich somit eine Form des gesellschaftlichen Zusammenlebens als Normalität eingestellt, die man als Urbanität oder Stadtkultur bezeichnen kann. Urbane Lebenskonzepte haben sich dabei als die dominante Form der Eingliederung des Individuums in die Gesellschaft herausgestellt. In den Städten lernt man, was die gültigen Verhaltenscodes für die unterschiedlichen Situationen im Leben sind. Hier kann man beobachten, wie zu den verschiedensten Anlässen geredet werden soll, welche Kleidung wann am besten passt und wie mit Partnern, Freunden und Bekannten, aber auch Gegnern, Feinden oder Nervensägen umzugehen ist. Die Stadt ist somit das große Lern-Labor der Gesellschaft. Durch ihre Dynamik und Mobilität ist sie der Ort, in dem immer wieder neue Situationen entstehen, in dem kreatives Handeln des Einzelnen möglich – oft aber auch erforderlich ist.

 

Insbesondere die Großstadt ist als Bühne für das Ausprobieren neuer Verhaltensweisen wichtig. Großstädte strahlen in dieser Hinsicht auf die gesamte Gesellschaft aus und zeigen wie unter einem Brennglas, wie sich Probleme im Zusammenleben situativ, wenn nicht lösen, dann doch zumindest managen lassen können. Auf diese Weise wird die vorgelebte Urbanität für alle, auch in Kleinstädten und auf dem Land, zu einer Referenz, mit der man sich auseinandersetzen muss. Positiv Wahrgenommenes wird zur gesellschaftlichen Norm und die jeweilige Stadt erhält einen Vorbildcharakter. Manches wird blind kopiert, schlichtweg, weil es aus dem hippen Berlin, der Karnevalshochburg Köln, der Bankenmetropole Frankfurt oder der Klimaschutzstadt Kiel kommt. In jedem Fall ist die Gesellschaft darauf angewiesen, dass sie solche Beispiele hat und Experimente unternehmen kann, um sich immer wieder zu innovieren. Mit der Omnipräsenz der Stadtkultur in der Gesellschaft wurden die früheren Unterschiede zwischen Stadt und Land weitgehend eingeebnet. Spätestens mit der Installation des 5G-Netzes auf dem Land wird sich davon kaum noch etwas auffinden lassen.

Frank Eckardt
Frank Eckardt leitet die Professur für Sozialwissenschaftliche Stadtforschung an der Bauhaus-Universität Weimar.
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