Im Jahr 1971 stand die Hauptversammlung des Deutschen Städtetags unter dem Motto „Rettet unsere Städte jetzt!“. Themen waren Bodenspekulation, Verkehrssituation in der Stadt, unzureichende Finanzausstattung der Kommunen und anderes mehr. Durch die Debatten zog sich die Frage, wie die Stadt menschlicher werden kann oder anders gesagt: Wie kann die Stadt den Bedürfnissen der Bürgerinnen und Bürger gerecht werden, und wie können sich die Bürgerinnen und Bürger in die Stadt einbringen. Ein Ausgangspunkt war die „Unwirtlichkeit unserer Städte“, wie sie Alexander Mitscherlich analysiert und im gleichnamigen Buch beschrieben hatte. Die durch Krieg und schnellen Wiederaufbau teils bereits autogerechten Städte wurden als seelenlos und entmenschlicht bezeichnet.
Die Erklärung „Rettet unsere Städte jetzt!“ des Deutschen Städtetags wird vielfach als Geburtsstunde der Neuen Kulturpolitik gesehen. Einer vor allem kommunalen Kulturpolitik, die sich an alle Bürgerinnen und Bürger einer Stadt richtet und eben nicht nur an die bürgerliche Elite. Einer Kulturpolitik, die auf Beteiligung setzt. Einer Kulturpolitik, die der kulturellen Bildung mehr Gewicht gibt und die Kultur und Freizeit verbindet. So wurde beispielsweise unter der Ägide von Hilmar Hoffmann als Kulturdezernent in Frankfurt am Main das „Amt für Kultur“ in „Amt für Kultur und Freizeit“ umbenannt – eine Umbenennung, die heute sicherlich auf Befremden stoßen würde, denn gerade in der Corona-Pandemie wurde einmal mehr deutlich, dass man mit wenig den Kulturbereich und die kulturelle Bildung mehr erzürnen kann, als sie unter Freizeit einzuordnen. Vieles, was seinerzeit in der Erklärung des Deutschen Städtetags benannt wurde, kommt einem heute sehr bekannt vor. Bodenspekulation heißt heute Gentrifizierung und Verdrängung von Menschen mit geringem Einkommen in Stadtrandsiedlungen. Die Verkehrssituation der Städte wird heute unter dem Stichwort Stickoxidbelastung und Flächenversiegelung geführt. Die unzureichende Finanzausstattung der Kommunen ist nach wie vor ein zentrales Thema. Die Aufgaben der Städte sind gewachsen, ihre Finanzausstattung ist vielfach prekär. Insbesondere Städte in vom Strukturwandel gezeichneten Regionen, wie etwa dem Ruhrgebiet, befinden sich bereits seit Jahrzehnten in der Haushaltssicherung und müssen ihre Etats von übergeordneten Stellen wie den Bezirksregierungen genehmigen lassen.
Der Deutsche Städtetag hat im Jahr 2015 das Positionspapier „Kulturpolitik als Stadtpolitik“ veröffentlicht, in dem die aktuellen Anforderungen an die kommunale Kulturpolitik beschrieben werden. In der Präambel wird mit Blick auf die Kulturförderung formuliert: „Kommunale Kulturförderung gestaltet die kulturelle Infrastruktur in der Stadt. Sie ist und bleibt eine Angelegenheit der kommunalen Daseinsvorsorge, deren Gestaltungsfreiheit keinen nationalen oder internationalen Beschränkungen unterworfen werden darf. Bund und Länder können hier unterstützend wirken.“ Aus diesem Zitat spricht das kommunale Selbstbewusstsein, dass in der Stadt die Zukunft der Stadt verhandelt wird, und zwar von den Verantwortlichen in den Räten und in der Verwaltung. Das ist zugleich der Aufruf, sich einzumischen in die Gestaltung und in die politischen Entscheidungen in der Stadt. Die Polis, der Beginn der europäischen Stadt, ist zugleich die Wiege der Demokratie und der Ort, an dem jeder Einzelne zur Mitwirkung gefordert ist.
Die bei Erscheinen dieses Heftes fast ein Jahr andauernde Corona-Pandemie hat bereits jetzt ihre Spuren in den Städten hinterlassen. Das, was eine Stadt lebenswert macht, Kultur, Freizeit, Einkaufen, Ausgehen, Flanieren, ist kaum mehr möglich. Der erste Lockdown im Frühjahr 2020 und jetzt der zweite seit November 2020 zeigen die Unwirtlichkeit vieler Städte. Dort, wo sich sonst Menschen in Fußgängerzonen, auf Märkten, in Cafés, Bars, Kneipen, Stadtteilfesten usw. trafen, kann das Zusammentreffen nicht oder nur unter eingeschränkten Bedingungen stattfinden. Kulturorte, die sich bewusst als Begegnungsorte entwickelt haben, wie Bibliotheken und soziokulturelle Zentren, haben geschlossen. Museen, Theater, Konzerthäuser, Kinos und andere Orte mehr, die die Stadt, ihre Lebendigkeit und Abwechslung auszeichnen, mussten schließen, und Tourismus ist ohnehin weitgehend untersagt. In vielen Städten ist nahezu handgreiflich zu spüren, wie wenig in die Naherholung investiert wurde, wie sehr die noch vorhandenen grünen Flecken bebaut wurden und wie verdichtet die Städte sind. Nichtkommerzielle Orte in den Städten, sogenannte Dritte Orte, waren schon vor der Pandemie rar gesät, jetzt sind sie verschwunden.
In vielen Kultureinrichtungen in den Städten sowie den Verbänden, die die Interessen der Kultureinrichtungen vertreten, geht die Sorge um, dass infolge der Corona-Pandemie mit massiven Einsparungen in den Kulturetats zu rechnen sein wird. Die künftige kommunale Kulturfinanzierung wird immer wieder in Gesprächen als Problem benannt. Die auskömmliche Finanzierung der Kommunen, ihre Entschuldung und vor allem der Umgang mit den sogenannten freiwilligen Aufgaben, wie der Kulturförderung, sind zentrale politische Aufgaben, wenn es um die Zukunft der Städte geht.
Denn schon im Mittelalter sagte man: Stadtluft macht frei. Die Menschen zieht es in die Städte. Dabei ist in Deutschland nur ein minimaler Hauch vom weltweiten Trend der Städte zu erleben. Hier gibt es keine Megacities wie in Asien oder teilweise auf dem afrikanischen Kontinent, zu denken ist etwa an Lagos, Kairo oder Kinshasa. Gegenüber Städten wie Tokio, Jakarta, Neu-Delhi und Mumbai ist meine Heimatstadt Berlin fast ein Dorf.
Die Bedeutung der Stadt kommt in der „UN-Agenda 2030 für nachhaltige Entwicklung“ zum Ausdruck. Es heißt dort unter Ziel 11 „Städte und Siedlungen inklusiv, sicher, widerstandsfähig und nachhaltig gestalten“. In diesem Ziel wird prägnant zusammengefasst, worum es in der Stadtentwicklung gehen muss.
Städte müssen für alle Menschen da sein , sprich inklusiv sein, sie müssen sicher sein und sie müssen widerstandsfähig, insbesondere bei Naturgewalten, sein. Die nachhaltige Gestaltung der Stadt ist die Zukunftsaufgabe. Denn Nachhaltigkeit bedeutet mehr als Ökologie. Nachhaltigkeit im Sinne der UN-Agenda 2030 heißt auch Zugang zu Bildung und Kultur, umfasst die Bekämpfung von Armut, beinhaltet den Einsatz für Geschlechtergerechtigkeit und anderes mehr. Der Deutsche Kulturrat hat in seiner Stellungnahme zur UN-Agenda 2030 zum Ziel 11 formuliert: „Nachhaltigkeit und Resilienz sind und bleiben die wichtigsten Handlungsmaßstäbe, um die großen Aufgaben unserer Zeit, wie Klimawandel und Bevölkerungsmigrationen, lösen zu können.
Ihre große Dichte macht Städte zum idealen Ansatzpunkt beim Kampf gegen den Klimawandel. Denn sie können in großem Maßstab Ressourcen schonen und exemplarisch für Nachhaltigkeit sein.“ Und weiter: „Eine gebaute Umwelt von hoher Qualität unter Achtung des baukulturellen Erbes trägt wesentlich zur Bildung einer nachhaltigen Gesellschaft bei, die sich durch eine hohe Lebensqualität, kulturelle Vielfalt, Wohlbefinden der Individuen und der Gemeinschaft, soziale Gerechtigkeit und Zusammenhalt sowie eine leistungsstarke Wirtschaft auszeichnet.“
Mitte des 20. Jahrhunderts lebten 30 Prozent der Menschen in den großen Städten der Welt. Heute sind es über 50 Prozent. Bis 2050 werden voraussichtlich 80 Prozent der Weltbevölkerung in Städten leben. Die Megacities explodieren weltweit geradezu! Deshalb braucht es eine nachhaltige Stadtkulturpolitik. Sie muss kulturelle und ökologische Aspekte vereinen, damit die Stadt lebenswert sein kann. Stadtentwicklung ist eine der zentralen Zukunftsaufgaben der Kulturpolitik.
Dieser Text ist zuerst erschienen in Politik & Kultur 2/2021.