„Wenn ich etwas nicht tue – dann wird es nicht getan“

Die Kultur-Unternehmerin Ulrike Lorenz kennt Ost und West

 

Die Klassik Stiftung Weimar umfasst 27 Institutionen, von der Bibliothek über Literaturarchive, das Bauhaus-Museum bis zu Schlössern und Parks. In Ihrer Antrittsrede als Präsidentin Mitte August erklärten Sie ziemlich offensiv, die Stiftung müsse „offener, zukunftsorientierter – und politischer“ werden. Dafür gab es minutenlangen Beifall. Was von Ihrem für einzelne Museen entwickelten Ansatz geht unter den Bedingungen der Stiftung als Dachorganisation?
Es geht wesentlich mehr, als ich am Anfang dachte. Zwar werden wir hier sehr viel mehr Mühe reinstecken müssen und es wird vielleicht etwas länger dauern, aber es ist zutiefst notwendig. Selbst für eine solche komplexe Großorganisation, wie es die Klassik Stiftung Weimar ist, die über 500 Jahre Kultur- und Geistesgeschichte bewahrt, ist es absolut sinnvoll, die Vielfalt der Erbschaften in unserer heutigen Perspektive zu bearbeiten. Das begreife ich selbst erst nach und nach. In den ersten 100 Tagen habe ich zahllose Gespräche mit Direktoren und Kolleginnen und Kollegen geführt. Ich bin noch immer nicht ganz durch, habe aber schon ein plastischeres Bild als noch bei meiner Antrittsrede. Da war es eher eine Theorie zu sagen: Ich probiere das mal. Sie fragen die 10.000 Dollar-Frage. Die stelle ich mir selber auch: Geht das überhaupt? Mittlerweile bin ich der Meinung: Es ist das Mindeste an Anspruch, was wir als eine große, öffentlich geförderte Kulturstiftung in Deutschland haben müssen. Diese Transformation geht, weil wir auch in Weimar mit Sammlungen, mit Objekten arbeiten. Diese Objekte sind Originale. Originale haben die einmalige Eigenschaft, dass sie, je nach Perspektive des Fragenden, neue Antworten preisgeben. Wir bewahren diese Objekte, ganz gleich ob es nun Gemälde, Handschriften, Wiegendrucke oder historische Parks sind, mit großem Aufwand – aber es ist auch unsere Aufgabe, sie mit unseren brennenden Fragen des 21. Jahrhunderts zu konfrontieren: Wie wollen wir zusammenleben? Was können wir vom Umgang mit der Natur im 18. Jahrhundert lernen? Wie entsteht Neues? – und auf die Antworten zu hören, die wir manchmal auch rauskitzeln müssen.

 

Ihre Arbeit findet nicht im politisch luftleeren Raum statt. Bei den jüngsten Landtagswahlen haben politisch reaktionäre, zum Teil fremdenfeindliche Kräfte an Zustimmung gewonnen.
Der AfD-Fraktionsvorsitzende Alexander Gauland bezeichnet Johann Wolfgang von Goethe als einen Inbegriff deutscher Kultur, auf die er stolz sei.
Ihre Forderung nach Politisierung auch der klassischen Kunst steht dem diametral entgegen.
Das sind zwei komplementäre Auffassungen. Umso wichtiger ist, dass wir nicht fehlen. Wir dürfen rückwärtsgewandten Kräften in der Gesellschaft, die dezidiert antidemokratisch argumentieren, nicht das Feld überlassen. Erst recht nicht bei Themen, die kontrovers sind: Identität, Heimat, Kunst. Die Klassik Stiftung Weimar ist ein fantastisches Beispiel dafür, was es heißt, aus einer Vielzahl von Impulsen und Prägungen, auch internationalen Einflüssen, etwas zu formen, was Kunst wird. Wir sind das Beispiel dafür, wie aus Vielfalt, vor der man keine Angst haben muss, die man genießen kann, Antworten, auch Trost, zu filtern sind. Was heißt Identität? Was macht uns aus? Homogen war nie. Das ist ein fehlgeleitetes Geschichtsbild. Wir sind eine Zusammensetzung aus verschiedenen »Herkünften«. Nur das macht uns reich. Die großen Gewährsklassiker Goethe, Schiller, Herder, Wieland waren Menschen, die uns vorgemacht haben, wie Fremdes, Vorbildhaftes, Vielfältiges durch den Filter der persönlichen Wahrnehmung hindurchgegangen ist und zu einem unverwechselbar eigenen Ausdruck verschmolzen wurde. Mit Einheits- und Reinheitsvorstellungen hatte das nie etwas zu tun.

 

Weimar ist der Ort, wo Goethe und Buchenwald, Bauhaus und Nationalversammlung geschichtsträchtig untrennbar miteinander verwoben sind. Was bedeutet das für die Arbeit der Stiftung?
Aus diesem extremen Spannungsfeld, das hier auf engstem Raum zusammenkommt, erwächst unsere Verantwortung. Die Spannung zwischen Weimarer Klassik, Klassischer Moderne und Buchenwald müssen wir aushalten. Es ist ein Widerspruch, den wir nicht lösen, aber bearbeiten können. Wir machen ihn zum Ausgangspunkt unserer Selbstentwicklung als Kulturinstitution. Es ist eine brisante, existenzielle Reibung, die wir nicht wegbügeln, sondern herauskristallisieren. Das ist die Aufgabenstellung. Genau hinschauen: Wie ist das geworden?
Ich bin hergekommen mit der Vorstellung, dass wir es bei Klassik und Buchenwald – beides Symbole für gesellschaftliche Gesamtkonzepte – mit Antinomien zu tun haben. Aber es ist genauer hinzuschauen und zu fragen: Wie hängt das miteinander zusammen? Da wird es dann erst richtig ungemütlich. In diese Tiefenschichtung müssen wir eindringen.
Das ist meine Vorstellung von der Klassik Stiftung: Wir sind nicht nur eine Gedächtnisinstitution, die sich im bewahrenden Gestus und in beglückenden Harmonien erschöpft, sondern wir machen die geistigen Ressourcen, die wir hüten, zum Rohstoff unseres Weiterdenkens. Das ist Proviant für den Weg in die Zukunft.

 

Was unterscheidet das Weimar, in dem Sie vor 20 Jahren promoviert haben, von dem Weimar, wie Sie es heute erleben? Ist es, wie manche aus Wahlergebnissen herauslesen, hinter den Aufbruchsgeist zurückgegangen?
Nein. Das wäre eine einseitige Perspektive, zu der man kommen kann, wenn man die – auch durch Medien gefilterten – derzeitigen Diskussionen erlebt, die stark von einem Enttäuschungsmoment getragen sind. Ich erlebe vor Ort anderes. Weimar ist sicher in einer privilegierten Lage. Wir sind mit einer ungeheuren kulturellen Dichte gesegnet. Diese Stadt hat so viel gewonnen, wie auch die neuen Bundesländer insgesamt gewonnen haben in diesen 30 Jahren. Man muss daran erinnern: Wo sind wir gestartet? Es war ein Hilferuf weiter Teile der DDR-Bevölkerung, rasch und sicher an die Bundesrepublik angegliedert zu werden. Natürlich haben sich viele was anderes vorgestellt – aber es ist auch unendlich viel gelungen: die Verbesserung des Lebensniveaus und unserer natürlichen Umwelt, die Rettung der historischen Bausubstanz ganzer Städte, Freizügigkeit, Rechtstaatlichkeit, die Weltläufigkeit der jüngeren Generation. Darauf kann man doch stolz sein – und tatkräftig weiter in die Zukunft gehen.

 

Welche Ihrer West-Erfahrungen nutzen in Weimar besonders?
Zum einen vielleicht die Erfahrung, Menschen, die durch unterschiedliche Sozialisationen geprägt sind, zur gemeinsamen Bewältigung einer Aufgabe zu bewegen. Ich bringe mit, dass das geht.
Zum Zweiten die Beobachtung, dass es einen Typ Mensch gibt, dem ich mich zutiefst verbunden fühle. Das ist der Unternehmer: Jemand, der etwas unternimmt. Ich konnte das aus nächster Nähe verfolgen in Mannheim. Den Neubau eines Museums macht keiner allein, es braucht mutige Mittäter, die es vertrauensvoll wagen, in eine offene, nicht definierte Zukunft zu gehen, die gemeinsam gestaltet wird. Das ist in der Kultur gar nicht so sehr anders als in der Wirtschaft: der kraftvolle Umgang mit Realität als einer zu formenden Textur. In diesem Sinne bin ich vielleicht eine Kultur-Unternehmerin.

 

Vielen Dank.

 

Dieses Interview ist zuerst erschienen in Politik & Kultur 12/2019-01/2020.

Ulrike Lorenz und Hans Jessen
Ulrike Lorenz ist Präsidentin der Klassik Stiftung Weimar. Hans Jessen ist freier Journalist und ehemaliger ARD-Hauptstadtkorrespondent.
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