“Was die Zeitungen nicht druckten, brachten wir auf die Bühne”

Die Erfahrungen der Schauspielerin Friederike Brüheim in DDR und BRD

 

Im Herbst 1975 hast du dann einen Ausreiseantrag aus der DDR gestellt. Inwieweit war das ein Problem für das Theater Rudolstadt?
Von Anfang an habe ich es am Theater offen gesagt. Zuerst haben sie mich persönlich nicht behelligt. Aber es gab Kollegen, die in der Partei waren. Sie mussten es in ihrer Parteiversammlung ausstehen. Zu mir persönlich haben sie nie darüber gesprochen.
1976 kam dann der neue Oberspielleiter Klaus Fiedler nach Rudolstadt. Er wollte das Ensemble erneuern und hat viele Absolventen engagiert. Sein erstes Stück war ein amerikanisches: “Eine etwas sonderbare Dame”. Da haben wir festgestellt, dass wir wunderbar zusammenarbeiten können. Ich habe sofort verstanden, was er wollte. Es begann eine neue Ära am Theater Rudolstadt, bei der er mich unbedingt dabeihaben wollte – Ausreiseantrag hin oder her.

 

Aber ihr hattet Gastspiele, sogenannte Abstecher, im Sperrgebiet an der Grenze.
Ja, mit dem Ersatzausweis P12 durfte ich nicht mit. Der Regisseur hat bei den Gastspielen, an denen ich nicht teilnehmen konnte, nie gesagt: “Frau Brüheim ist krank.” Sondern immer: “Frau Brüheim konnte nicht einreisen.”

 

Das war eine Aussage, die man sich erst mal trauen musste.
Die Ensemblemitglieder und auch der Oberspielleiter haben viel ausgestanden meinetwegen, wahnsinnig viel. Es wurde ihm nahegelegt, einen Aufhebungsvertrag zu machen – aber mit welcher Begründung? Künstlerisch konnten sie mir nichts nachweisen. Ich war in jeder Inszenierung, habe Hauptrollen gespielt und bin von der Kritik besonders erwähnt worden.
Dann bekamen wir als Schauspielensemble den Kunstpreis des Bezirkes Gera. Das heißt, das Ensemble durfte nach Polen reisen – ich natürlich nicht. Aber sie haben mir eine Karte geschickt, jeder Einzelne hat unterschrieben – obwohl die Stasi sie natürlich kontrolliert hat. Dieser Zusammenhalt war einzigartig.

 

Du hast mir oft erzählt, dass nach den Proben am Theater immer schon ein Stasi-Beamter auf dich gewartet und dich “begleitet” hat.
Ja, kontinuierlich – auch mitten in der Nacht nach Vorstellungen oder Proben. Ein Beispiel: In der Nacht vor seiner Einschulung bekam mein Sohn Mumps. Wir sind sofort los zum Krankenhaus. Auf dem Rückweg, kurz vor meinem Haus, stand wieder ein Abschnittsbevollmächtigter. Er hat sich breitbeinig vor mich gestellt und gesagt: “Na, mit dem Kind noch so spät unterwegs?”. Es war wie im Film.

 

Es hat über drei Jahre gedauert bis dein Ausreiseantrag geprüft wurde.
Die Prüfung dauerte so lang. Als ich das dritte Mal bei der Behörde für Inneres in Arnstadt einbestellt war, sollte ich auf einmal blitzschnell ausreisen. Aber ich war in jedes Stück am Theater Rudolstadt eingebunden, das wollte ich dem Ensemble nicht antun. Also habe ich gesagt: “Ich möchte den Ausreiseantrag nicht unterschreiben. Ich möchte bleiben. Aber ich stelle eine Bedingung. Ich möchte meinen normalen Personalausweis haben. Ich möchte auch, dass meinem Kind keine Repressalien drohen und ich meinen Beruf wieder vollständig ausüben kann.” Der Beamte entgegnete nur: “Das entscheiden wir doch nicht, sondern die Zeit.” Da bin ich ausgerastet und habe den Ausreiseantrag unterschrieben. Danach bin ich sofort zum Theater und habe alles erzählt.
Es ging alles sehr, sehr schnell. Ich musste mich überall abmelden und eine offizielle Liste erstellen, was ich mitnehmen möchte. Jedes einzelne Buch musste dort aufgelistet werden, jede Schallplatte. In der Zeit habe ich einen Brief vom Oberspielleiter Klaus Fiedler bekommen, in dem er schrieb: “Du wirst es nicht verstehen, aber ich möchte mit dir bis zum letzten Tag probieren.” Und bis zum letzten Tag habe ich in meinen Rollen probiert und gespielt. Meine Kolleginnen und Kollegen haben das respektiert.
Am Tag vor meiner Abreise kamen sie alle in meine Wohnung, die schon halb leer war, und haben sich verabschiedet. Am Tag darauf, den 18. Februar 1978, bin ich über Bebra nach Hamburg ausgereist. Aber bis heute stehe ich mit Kolleginnen und Kollegen aus Rudolstadt in engem Kontakt.

 

Wie hast du in Hamburg Engagements gefunden?
Das ist ganz schwierig gewesen, mir war ja alles fremd. Ich bin anfangs zur ZBF, der Zentralen Bühnen-, Film- und Fernsehvermittlung, gegangen. Dort sollte ich vorsprechen. Das empfand ich unter meiner Würde. Ich habe Kritiken von bekannten Theaterkritikern vorgelegt. In der DDR war Schauspieler ein geschützter Beruf, in der BRD konnte sich jeder Schauspieler nennen, der mal über eine Bühne gegangen ist. Ich bin direkt zu Theatern gegangen. Darüber bekam ich einen Vertrag vom Tournee-Theater Landgraf, das war damals das renommierteste in der Bundesrepublik. Aus dem ersten Engagement wurde ein zweites und so weiter.

 

Welche Unterschiede sind dir anfangs an westdeutschen Bühnen im Vergleich zu Annaberg und Rudolstadt aufgefallen?
Es war eine Wahnsinnsumstellung. Die konkrete Arbeit am Stück war eine viel Allgemeinere. Außerdem wurden Proben am Privattheater überhaupt nicht bezahlt. Und ich hatte ja gar keinen Namen in der BRD– und das Tourneeunternehmen verkauft Tickets für Vorstellungen auch im Hinblick auf die Namen.

 

Nach und nach kamen immer mehr Engagements rein.
Vor der Wende habe ich unter anderem in Bremen und Kiel gastiert. In Detmold habe ich “Iphigenie auf Tauris” von Goethe gespielt und vieles mehr. Das größte Filmprojekt war 1985, da habe ich die Hauptrolle in “Wechselbalg” von Sohrab Saless gespielt. Was die Arbeit mit der Kamera betrifft, war es für mich der absolute Höhepunkt. Mit Saless zu arbeiten war einfach besonders. Wir wollten weitere Filme zusammen drehen, aber dann verstarb er plötzlich. Vor und nach dem Mauerfall habe ich in verschiedenen Inszenierungen auf Kampnagel mitgespielt. Der Regisseur war Thomas Matschoß, wir haben zum Teil Stücke aus Improvisationen heraus entwickelt. Aus dieser Zeit hat sich nach der Wende auch der Hamburger “Jedermann” entwickelt, in dem ich 20 Jahre bis 2013 im Sommer gastiert habe. Ein anderes Projekt, was mir sehr am Herzen lag, war die Adaption von Einar Schleefs “Gertrud”, bei der ich mitspielte. Judith Wilske führte Regie. Unter anderem waren wir 2003 am Berliner Hebbel am Ufer zu Gast. Daraus hat sich auch ein regelmäßiges Engagement am Theater Paderborn bis 2013 entwickelt. Heute arbeite ich an szenischen Lesungen und spiele Ein-Personen-Stücke.

 

Vielen Dank.

 

Dieser Text ist zuerst erschienen in Politik & Kultur 06/2020.

Friederike Brüheim & Theresa Brüheim
Friederike Brüheim ist Schauspielerin und lebt in Hamburg. Theresa Brüheim ist Chefin vom Dienst von Politik & Kultur.
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