Eine vorwiegend symbolische Existenz

Jüdisches Leben im geteilten Deutschland

In den 1950er und 1960er Jahren teilten die meisten in Deutschland lebenden Juden das Gefühl, nur zeitweise hier zu leben. Wenn sie es nicht schafften auszuwandern, so sollten wenigstens ihre Kinder die Zukunft in Israel oder dem westlichen Ausland finden. Viele schickten diese, auch in Ermangelung jüdischer Schulen in Deutschland, auf jüdische Internate in England oder Frankreich. In der Tat wanderten zahlreiche junge Juden in den ersten Jahrzehnten der Bundesrepublik aus. Aber es kamen auch immer wieder neue jüdische Einwanderer hinzu: aus Polen, der Tschechoslowakei, zu Beginn der 1970er Jahre bereits in einer ersten kleinen Welle aus der Sowjetunion, aus dem Iran und zunehmend auch aus Israel.

 

Da sich Auswanderung und Einwanderung in etwa die Waage hielten, blieb die Zahl jüdischer Gemeindemitglieder in Deutschland von den 1950er bis in die 1980er Jahre relativ konstant zwischen 25.000 und 30.000. Mit der Erkenntnis, dass eine zweite Generation wohl doch zumindest teilweise im Lande bleiben würde, begann aber auch der Aufbau neuen jüdischen Lebens. Vor allem in den 1960er Jahren setzte der Bau von Synagogen ein, die ersten jüdischen Grundschulen wurden in Frankfurt, München und Berlin gegründet, und 1979 errichtete der Zentralrat der Juden in Deutschland die Hochschule für Jüdische Studien in Heidelberg, in der Absicht, hier auch Rabbiner und Religionslehrer auszubilden.

 

Diese Gründung fiel in eine Umbruchzeit für die Juden in der Bundesrepublik. Es war nun die erste im Nachkriegsdeutschland geborene Generation herangewachsen, die mehr politische Aktivitäten und religiösen Pluralismus forderte. Die Protestaktionen anlässlich des Besuchs von Bundeskanzler Helmut Kohl und US-Präsident Ronald Reagan auf dem Soldatenfriedhof in Bitburg mit Gräbern von Waffen-SS-Angehörigen 1985 sowie die Besetzung der Bühne des Frankfurter Schauspiels im gleichen Jahr anlässlich der geplanten Aufführung von Rainer Werner Fassbinders Stück „Der Müll, die Stadt und der Tod“, dessen Hauptfigur schlicht „Der reiche Jude“ betitelt war, stand für diesen neuen Aktivismus. Als 1992 der Initiator der Frankfurter Bühnenbesetzung und dortige Gemeindevorsitzende Ignatz Bubis, an die Spitze des Zentralrats gewählt wurde, war dieser Wandel abgeschlossen.

 

Auch in der DDR hatte sich in den 1980er Jahren einiges getan. Junge Jüdinnen und Juden, zumeist Kinder von überzeugten Kommunisten, hatten sich von der politischen Überzeugung ihrer Eltern gelöst und suchten nach weniger verkrusteten Wegen, sich an die jüdische Gemeinschaft anzuschließen. So entstand in der Ost-Berliner Gemeinde eine jüdische Gruppe, die nach Alternativen zu den staatlich kontrollierten Gemeinden suchte. Auch die Parteiführung ging in den letzten Jahren der DDR, wohl aus Gründen einer erhofften Finanzhilfe aus den USA, auf die jüdische Gemeinschaft zu, stellte erstmals seit Jahrzehnten wieder einen Rabbiner aus den USA ein und erklärte, die während des Kriegs zerstörte Synagoge in der Oranienburger Straße aufbauen zu wollen.

 

Der Wandel des jüdischen Selbstverständnisses ist nur im Rahmen des gesamtgesellschaftlichen Wandels zu verstehen. Beginnend mit der Ausstrahlung der amerikanischen TV-Miniserie „Holocaust“ im westdeutschen Fernsehen 1979, erhielt dieses Wort erstmals in breiten Kreisen die Bedeutung, die es seitdem trägt. Wohl kein anderes Ereignis löste eine so heftige und nachwirkende Diskussion über die deutschen Verbrechen im Zweiten Weltkrieg aus wie dieser Fernsehfilm. In den 1980er Jahren kam es auch zu zahlreichen lokalen Initiativen in der Bundesrepublik, die jüdische Geschichte am Ort zu untersuchen und der Ermordung der „jüdischen Mitbürger“, wie es oftmals unglücklich formuliert hieß, zu gedenken. Selbst in der DDR fand am 9. November 1988 erstmals ein breit angelegtes und staatlich unterstütztes Gedenken an die Verbrechen gegenüber den Juden statt.

 

Für die Juden selbst war diese „Aufarbeitung“ der Vergangenheit ein wichtiges Zeichen und eine Ermutigung, ihre Zukunft im Land zu planen. Gleichzeitig machte es die allgegenwärtige Präsenz dieser Thematik schwer, eine „normale“ Existenz zu führen. Der Schatten der sechs Millionen toten Juden überdeckte weiterhin den Alltag der 30.000 lebenden Juden. Auch der große Einschnitt, der durch die Zuwanderung von über 100.000 Juden aus der ehemaligen Sowjetunion in den 1990er Jahren zu spüren war, konnte diese Prämisse jüdischen Lebens in Deutschland nicht grundlegend ändern. Größer als ihre reale Existenz ist weiterhin ihre symbolische Funktion.

 

Dieser Text ist zuerst erschienen in Politik & Kultur 4/2021.

Michael Brenner
Michael Brenner ist Professor für Jüdische Geschichte und Kultur an der Ludwig-Maximilians-Universität München.
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