Michael Brenner - 29. März 2021 Kulturrat_Logo_72dpi-01

Jüdischer Alltag / Ost-West-Perspektiven

Eine vorwiegend symbolische Existenz


Jüdisches Leben im geteilten Deutschland

Als am 9. November 1989 die Berliner Mauer fiel, lebten westlich davon 27.700 Mitglieder jüdischer Gemeinden, östlich davon waren es noch ganze 350. Darüber hinaus gab es noch eine unbestimmte Zahl von Juden, die nicht Gemeindemitglieder waren, aber selbst mit diesen blieb der Anteil von Jüdinnen und Juden an der deutschen Gesamtbevölkerung unter 0,1 Prozent. Jeder tausendste Deutsche war also jüdisch. Die Zahl der hierzulande lebenden Juden entsprach etwa der Einwohnerzahl von Buxtehude oder Kaufbeuren. Und doch hörte man von den Juden ungleich mehr als von Buxtehudern oder Kaufbeurern. Denn neben der realen Existenz der 30.000 lebenden Juden gab es die symbolische Existenz der sechs Millionen toten Juden. Diese Dichotomie prägte das Leben jeder Jüdin und jedes Juden in Deutschland in den vier Jahrzehnten zwischen der Gründung der beiden deutschen Staaten und dem Fall der Mauer.

 

Für die meisten Juden in Israel und Amerika, aber auch in Frankreich und der Schweiz, war nicht die kleine Zahl der jüdischen Gemeinschaft im Nachkriegsdeutschland überraschend, sondern die Tatsache, dass es nach der Shoah überhaupt wieder jüdisches Leben auf einem Gebiet gab, das sie als „blutgetränkte Erde“ bezeichneten. 1947 hatte sich der Jüdische Weltkongress gegen die Wiederbegründung jüdischer Gemeinden ausgesprochen, und noch 50 Jahre später sah dies der Staatspräsident Israels, Ezer Weizmann, so. Während die jüdische Gemeinschaft außerhalb Deutschlands den deutschen Juden vorwarf, nichts aus der Geschichte gelernt zu haben, versuchten diese, ihre christlichen Nachbarn davon zu überzeugen, ihrerseits aus der Geschichte zu lernen. Gleichzeitig dienten sie der deutschen Politik als lebendiger Beweis dafür, dass sich die beiden deutschen Staaten aus dem Schatten der Nazivergangenheit gelöst hatten und der Welt das Bild eines „neuen Deutschland“ vermitteln konnten. Sie waren, wie Politiker verschiedener Couleur dies bezeichneten, zum „Prüfstein“ für die deutsche Demokratie geworden.

 

Die meisten von ihnen stammten gar nicht aus Deutschland, sondern waren Displaced Persons, osteuropäische Holocaust-Überlebende, die auf ihrer Flucht vor dem ungebrochenen Antisemitismus in Osteuropa zumeist in der amerikanischen Zone „hängen geblieben“ waren. Nur die wenigsten von ihnen hatten sich bewusst dazu entschieden, in Deutschland zu bleiben. Typischer war die Begründung, dass man wegen Krankheiten oder alter Eltern nicht ausreisen konnte. Als 1950 der Zentralrat der Juden begründet wurde, wählte man auch aus diesem Grund bewusst diesen etwas distanzierten Namen und wollte nicht mehr die bis 1933 bestehende Tradition der deutschen Staatsbürger jüdischen Glaubens wiederbeleben.

 

Die großen Zentren der deutsch-jüdischen Gemeinschaft lagen im Süden, in München und Frankfurt. Bis 1957 bestand auch noch das letzte Displaced- Persons-Lager südlich von München im Wolfratshausener Stadtteil Föhrenwald, heute Waldram. Diese in Deutschland Gestrandeten lebten auch während der nächsten Jahrzehnte zumeist unbemerkt von der Öffentlichkeit. Ihr sprichwörtliches Hinterhofdasein fand seine wortwörtliche Entsprechung in der Tatsache, dass die wenigen in der Pogromnacht 1938 nicht zerstörten Synagogen sich oftmals tatsächlich im Hinterhof befanden und nur so der Brandstiftung entgangen waren.

 

Die deutschen Juden, die aus dem Exil zurückgekehrt waren, um die beiden deutschen Staaten wieder neu aufzubauen, errichteten ihre Zentren in der ehemaligen britischen Zone. Wichtige Funktionäre wie der langjährige Generalsekretär des Zentralrats der Juden in Deutschland, George Hendrik van Dam, und der Begründer der Jüdischen Allgemeinen Wochenzeitung, Karl Marx, kamen aus dem englischen Exil zurück und führten lange Zeit von Düsseldorf aus diese beiden wichtigen Institutionen. In Hamburg regierte in den 1960er Jahren mit Bürgermeister Herbert Weichmann der wohl bekannteste jüdische Politiker der Bundesrepublik.

 

Andere Rückkehrer waren als Sozialisten oder Kommunisten aus Deutschland geflüchtet und kamen nun als solche zurück, und zwar zumeist in den Osten. Darunter waren auch die bekannteren Namen, wie etwa die Schriftsteller Anne Seghers, Arnold Zweig und Stefan Heym. Sie mussten erleben, dass die in der spätstalinistischen Sowjetunion ausgebrochene und dann in die Tschechoslowakei übergeschwappte antisemitische Welle Ende 1952 auch die DDR erreichte. Innerhalb weniger Wochen flüchteten vor dem Hintergrund des antisemitischen Slansky-Schauprozesses in Prag und der Inhaftierung prominenter Juden auch in der DDR fast alle Vorsitzenden der dortigen jüdischen Gemeinden und viele Gemeindemitglieder in den Westen.

 


In den 1950er und 1960er Jahren teilten die meisten in Deutschland lebenden Juden das Gefühl, nur zeitweise hier zu leben. Wenn sie es nicht schafften auszuwandern, so sollten wenigstens ihre Kinder die Zukunft in Israel oder dem westlichen Ausland finden. Viele schickten diese, auch in Ermangelung jüdischer Schulen in Deutschland, auf jüdische Internate in England oder Frankreich. In der Tat wanderten zahlreiche junge Juden in den ersten Jahrzehnten der Bundesrepublik aus. Aber es kamen auch immer wieder neue jüdische Einwanderer hinzu: aus Polen, der Tschechoslowakei, zu Beginn der 1970er Jahre bereits in einer ersten kleinen Welle aus der Sowjetunion, aus dem Iran und zunehmend auch aus Israel.

 

Da sich Auswanderung und Einwanderung in etwa die Waage hielten, blieb die Zahl jüdischer Gemeindemitglieder in Deutschland von den 1950er bis in die 1980er Jahre relativ konstant zwischen 25.000 und 30.000. Mit der Erkenntnis, dass eine zweite Generation wohl doch zumindest teilweise im Lande bleiben würde, begann aber auch der Aufbau neuen jüdischen Lebens. Vor allem in den 1960er Jahren setzte der Bau von Synagogen ein, die ersten jüdischen Grundschulen wurden in Frankfurt, München und Berlin gegründet, und 1979 errichtete der Zentralrat der Juden in Deutschland die Hochschule für Jüdische Studien in Heidelberg, in der Absicht, hier auch Rabbiner und Religionslehrer auszubilden.

 

Diese Gründung fiel in eine Umbruchzeit für die Juden in der Bundesrepublik. Es war nun die erste im Nachkriegsdeutschland geborene Generation herangewachsen, die mehr politische Aktivitäten und religiösen Pluralismus forderte. Die Protestaktionen anlässlich des Besuchs von Bundeskanzler Helmut Kohl und US-Präsident Ronald Reagan auf dem Soldatenfriedhof in Bitburg mit Gräbern von Waffen-SS-Angehörigen 1985 sowie die Besetzung der Bühne des Frankfurter Schauspiels im gleichen Jahr anlässlich der geplanten Aufführung von Rainer Werner Fassbinders Stück „Der Müll, die Stadt und der Tod“, dessen Hauptfigur schlicht „Der reiche Jude“ betitelt war, stand für diesen neuen Aktivismus. Als 1992 der Initiator der Frankfurter Bühnenbesetzung und dortige Gemeindevorsitzende Ignatz Bubis, an die Spitze des Zentralrats gewählt wurde, war dieser Wandel abgeschlossen.

 

Auch in der DDR hatte sich in den 1980er Jahren einiges getan. Junge Jüdinnen und Juden, zumeist Kinder von überzeugten Kommunisten, hatten sich von der politischen Überzeugung ihrer Eltern gelöst und suchten nach weniger verkrusteten Wegen, sich an die jüdische Gemeinschaft anzuschließen. So entstand in der Ost-Berliner Gemeinde eine jüdische Gruppe, die nach Alternativen zu den staatlich kontrollierten Gemeinden suchte. Auch die Parteiführung ging in den letzten Jahren der DDR, wohl aus Gründen einer erhofften Finanzhilfe aus den USA, auf die jüdische Gemeinschaft zu, stellte erstmals seit Jahrzehnten wieder einen Rabbiner aus den USA ein und erklärte, die während des Kriegs zerstörte Synagoge in der Oranienburger Straße aufbauen zu wollen.

 

Der Wandel des jüdischen Selbstverständnisses ist nur im Rahmen des gesamtgesellschaftlichen Wandels zu verstehen. Beginnend mit der Ausstrahlung der amerikanischen TV-Miniserie „Holocaust“ im westdeutschen Fernsehen 1979, erhielt dieses Wort erstmals in breiten Kreisen die Bedeutung, die es seitdem trägt. Wohl kein anderes Ereignis löste eine so heftige und nachwirkende Diskussion über die deutschen Verbrechen im Zweiten Weltkrieg aus wie dieser Fernsehfilm. In den 1980er Jahren kam es auch zu zahlreichen lokalen Initiativen in der Bundesrepublik, die jüdische Geschichte am Ort zu untersuchen und der Ermordung der „jüdischen Mitbürger“, wie es oftmals unglücklich formuliert hieß, zu gedenken. Selbst in der DDR fand am 9. November 1988 erstmals ein breit angelegtes und staatlich unterstütztes Gedenken an die Verbrechen gegenüber den Juden statt.

 

Für die Juden selbst war diese „Aufarbeitung“ der Vergangenheit ein wichtiges Zeichen und eine Ermutigung, ihre Zukunft im Land zu planen. Gleichzeitig machte es die allgegenwärtige Präsenz dieser Thematik schwer, eine „normale“ Existenz zu führen. Der Schatten der sechs Millionen toten Juden überdeckte weiterhin den Alltag der 30.000 lebenden Juden. Auch der große Einschnitt, der durch die Zuwanderung von über 100.000 Juden aus der ehemaligen Sowjetunion in den 1990er Jahren zu spüren war, konnte diese Prämisse jüdischen Lebens in Deutschland nicht grundlegend ändern. Größer als ihre reale Existenz ist weiterhin ihre symbolische Funktion.

 

Dieser Text ist zuerst erschienen in Politik & Kultur 4/2021.


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