Vorangegangen war am 17. November 1976 Wolf Biermanns Aberkennung der Staatsbürgerschaft der DDR nach einem Konzert in Köln auf Einladung der IG Metall. Noch am gleichen Tag unterzeichneten zwölf DDR-Autoren einen offenen Brief gegen diesen Vorgang. Ihnen schlossen sich im Laufe weniger Tage über 70 weitere Künstler und Intellektuelle an. Bereits wenige Jahre später hatte sich die Biermann-Ausbürgerung als historische Zäsur in der kulturpolitischen Entwicklung der DDR erwiesen. So ist auch zu verstehen, dass die spätere, in die DDR hineingeborene Schriftstellergeneration sich mehr und mehr dem System verweigerte. Heiner Müller sagte über sie: „Als sie erwachsen wurden, war dieser Sozialismus nicht mehr als ‚Hoffnung‘ erkennbar, sondern nur noch als deformierte Realität.“
Im Verlauf der späten 1970er und 1980er Jahre entwickelte sich die Literatur in der DDR zunehmend zu einem Medium deutlicher Zivilisationskritik.
Anfang der 1980er Jahre erschien Christa Wolfs Roman „Kassandra“. Diese Seherin ist die historische Frauengestalt der Zeitwende vom Matriarchat zum Patriarchat und zeichnete sich aus durch die Modernität ihres Bewusstseins, die immer wieder Parallelen zur heutigen Frauen- und Friedensbewegung ermöglichte. Damit entwarf Christa Wolf ein anderes Bild einer emanzipierten Frau.
Nicht wenige Schriftsteller verließen teilweise unter politischem Druck bis hinein in die 1980er Jahre die DDR: unter anderem Günter Kunert und Erich Loest, Wolfgang Hilbig und Sarah Kirsch, Wolf Biermann und Manfred Krug. Andere blieben und verweigerten sich. So der 1946 geborene Richard Pietraß, der in einem Gedicht provokativ formulierte: „Wir bauen kein Nest, keine Zelle des Staats./ Am Rande, am Rand ist immer Platz.“
Volker Braun, der den Georg-Büchner-Preis 2000 erhielt, ließ wohl am deutlichsten den Schmerz der verlorenen Utopie spüren. Nicht, dass er einstmals eine glänzende Utopie formuliert hätte. Er war immer ein Zweifler am Müden und Starren des Staates DDR. Das war es, was ihn interessant und unverwechselbar machte. Am 28. Juni 1990 schrieb er in sein Arbeitsbuch: „2 – die herrschsucht der einen partei erlaubte nicht, in alternativen zu denken. alles war eingeschirrt in den triumphzug. jetzt, da viele stimmen reden, demonstriert die parlamentarische mehrheit den machtrausch der inkompetenz. das ist von den protesten der straße geblieben: die possen des hohen hauses. selber in geschenkten kleidern, gibt die volkskammer das volk zum kauf frei. die interessenten machen keine unklaren geschäfte. sie schießen keine müde mark vor, bevor sie nicht das ganze packen: bis zum grund und boden.“ Dass diese Stimme, dieses Zweifeln nicht mehr gehört, nicht mehr gefragt wird, ist der eigentliche Schlag.
Die literarische Entwicklung in der DDR war eine Emanzipationsbewegung, in der sich über vier Jahrzehnte ernst zu nehmende Literatur aus einem didaktischen Gestus löste.
Wie viele deutsche Literaturen gab es zu Ende der 1980er Jahre? Diese Frage hatte zu heißen Diskussionen geführt und die literarischen Auseinandersetzungen infolge der Friedlichen Revolution begleitet. Vermutlich hatte der Ostberliner Schriftsteller Christoph Hein recht, wenn er darauf hinwies, dass z. B. seine Biografie „drüben nicht denkbar“ wäre, „wie umgekehrt die Biografien von (Botho) Strauß oder Kroetz oder (Lothar) Baier in der DDR nicht denkbar sind, (…) solche Autoren kann man in der Tat nicht miteinander verwechseln oder gegeneinander austauschen (…).“
Im frühen Sommer 1990 brachte Christa Wolf eine kleine Erzählung heraus, „Was bleibt“, eine Stasigeschichte. Am 2. Juni erschien in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung ein vernichtender Aufsatz von Frank Schirrmacher über Christa Wolf und ihr Verhältnis zum Staat DDR.
In Folge hatte Christa Wolf wenige Monate später ihre Sorge dem Literaturwissenschaftler Hans Mayer gegenüber deutlich beschrieben: „Es wäre jetzt so wichtig, die richtigen Fragen zu stellen. Selten geschieht das. Ich verhehle meine Furcht nicht, dass in dem Vakuum, das durch Desorientierung entsteht, die Dämonisierung des unbekannten Wesens DDR weiter um sich greift, die teils mit bedacht, teils aus Mangel an Kenntnissen in vollem Gange ist. (…) Wir müssen auf Konkretheit bestehen und aufpassen, dass uns nicht das Leben genommen wird, das wir wirklich geführt haben, und uns stattdessen ein verzerrtes Phantom untergeschoben wird.“
Die Gesellschaftsform, in der ein Land sich befindet oder in die es hineinwächst, hat einen Einfluss auf das Seelenleben, also auch auf die Literatur. Zu dieser Form des Wandels schrieb Volker Braun am 24. April 2006: „die literatur, das sind wir und unsere feinde“/ das schöne wort heines setzt eine gemeinschaft und eine gegerschaft/ und beides sollen wir schätzen als bedingungen unserer arbeit „die gesellschaft findet nun einmal nicht ihr gleichgewicht,/ bis sie sich um die sonne der arbeit dreht“ (marx)/ : die akademie desgleichen d. i. die „organisierung der unorganisierbaren“ …
Dieser Text ist zuerst erschienen in Politik & Kultur 04/2020.