Ein Volk, das zwei Diktaturen zu bewältigen hatte, das zweimal mit der Problematik individueller „Wenden“, einer moralischen Umbewertung und eines unverdrossenen Weitermachens in erhoffter Stabilisierung konfrontiert wurde, hätte Anlass gehabt, genauer auf Zwischentöne zu achten und eine öffentliche Debatte zu führen, bei der nicht nach dem neuen Rang der Wirtschaftlichkeit, sondern nach Beschädigungen von Lebensläufen gefragt wurde. Diese Vorstellung hat viel zu spät einen Widerhall gefunden. Trotzdem bleibt noch immer die Chance von Literatur, sich dieser Fragen anzunehmen.
In der DDR war von Beginn an versucht worden, die Literatur zu einer öffentlichen Angelegenheit zu machen, die die ganze Bevölkerung beachtet und bewegt. Der offiziell genutzte Begriff „Literaturgesellschaft“ – zurückgehend auf Johannes R. Becher – sollte signalisieren, dass Literatur vergesellschaftet wurde, d. h. es wurde von ihr erwartet, dass sie lesbar, zugängig und in bestimmter Weise wirksam ist. Die einzelnen Schriftsteller, Genres, Werke, Motive, ästhetischen Mittel haben, so der Schriftsteller Becher, der 1954 erster Kulturminister der DDR wurde, über alle Zeiten und Grenzen hinweg schon immer in einem gesellschaftlichen, kommunikativen und einander befruchtenden Austausch gestanden. Planziel war die gebildete Nation mit sozialistischem Vorzeichen.
Um Literaturproduktion möglichst umfassend kontrollieren zu können, wurden die größeren Verlage in der DDR in Volkseigentum übergeführt oder in organisationseigene Strukturen, d. h. sie waren im Besitz von Parteien und Massenorganisationen. So gehörte z. B. der Dietz Verlag der SED, der Union Verlag der CDU, der Verlag der Nationen der NDPD, der Buchverlag Der Morgen der LDPD, der Tribüne-Verlag dem FDGB, Neues Leben der FDJ, Volk und Welt der Gesellschaft für deutsch-sowjetische Freundschaft und der Aufbau Verlag dem Demokratischen Kulturbund.
Die Verlage brachten im Jahr über 6.000 Titel in einer Gesamtauflage von ca. 150 Millionen Bücher heraus. Somit entfiel auf das einzelne Buch eine Durchschnittsauflage von fast 25.000 Exemplaren. Dabei ging es den Ideologen nicht vorrangig um Werbung für das Buch als Literaturgut, sondern auch um propagandistische Einflussnahme. Unter diesem Gesichtspunkt ist einleuchtend, warum Werke von Franz Kafka, Robert Musil oder James Joyce nur schleppend den Weg in die Verlage finden durften.
Kennzeichnend war, dass die DDR-Kulturpolitik den Schriftsteller nicht vorrangig als künstlerisches Individuum verstand, sondern als in die Gesellschaft eingebundenen Kulturvermittler. Zeugnis davon gibt das Statut des DDR-Schriftstellerverbandes in einer Fassung vom November 1973, das den Autor verpflichtet, mittels seiner „schöpferischen Arbeit aktive(r) Mitgestalter der entwickelten sozialistischen Gesellschaft“ zu sein. (…) „Die Mitglieder des Schriftstellerverbandes der DDR anerkennen die führende Rolle der Arbeiterklasse und ihrer Partei in der Kulturpolitik (…).“ Um ideologische und künstlerische Maßstäbe in Einklang zu bringen, wurde 1955 in Leipzig das Institut für Literatur Johannes R. Becher gegründet, nach dem Vorbild des Gorki-Instituts in Moskau. Bis 1969 hatten bereits 113 angehende Schriftstellerinnen und Schriftsteller das Institut absolviert, dazu gehörten bekannte Autoren wie Kurt Bartsch, Adolf Endler, Rainer und Sarah Kirsch, auch Ralph Giordano und der Österreicher Fred Wander waren Studenten der ersten Stunde.
Während die erste Hälfte der 1950er Jahre geprägt war von der Kulthymnik auf Josef Stalin und Walter Ulbricht, hatte die Lyrik ein Jahrzehnt später einen ganz anderen Charakter. Georg Maurer, Professor am Literaturinstitut postulierte: „Nicht Gefühle über Dinge sagen, sondern die Dinge so sagen, dass sie gefühlt werden können. Nicht eine Sache interessant machen wollen, sondern das Interessante der Sache entdecken, nicht die eigene Begeisterung hinausposaunen, sondern das Hinreißende der Sache zur Sprache bringen.“ Aus diesem Geist heraus lehrte er mit enormem Erfolg, wie die Texte seiner Studenten bezeugen – unter anderem Volker Braun, Adolf Endler, Heinz Czechowski, Sarah und Rainer Kirsch, Karl Mickel.
1969 studierte Gerd Neumann am Literaturinstitut Johannes R. Becher und wurde dort wegen „ideologisch-ästhetischer Bekenntnisse“ exmatrikuliert. „Und die SED“, so Neumann, „hat mich nicht nur ausgeschlossen, sondern aus ihren Reihen gestrichen. Man hat mich gelesen, als schriebe ich gegen etwas. Ich hatte aber versucht, apologetisches Schreiben zu vermeiden. Rechtfertigendes Schreiben war meiner Meinung nach zerstörend – und diese Ansicht wurde als feindlich erkannt. Ich meinte damals etwa, dass Schreiben nicht das Recht habe, belehrend aufzutreten (…) In der ideologischen Verkürzung der Sicht auf die Dinge war das Ablehnung der marxistisch-leninistischen Definition des Schönen (…), und deshalb wurde ich schließlich als Gegner verfolgt.“
Mit einer besonderen Form der Literatur gelang es dem 1926 geborenen Schriftsteller Erich Loest, ein Zeugnis zu geben für den Einzelnen und die namenlose Masse derer, die diese Sprache nicht besaßen. Es war vorprogrammiert, dass Loest auch 1964 nach siebeneinhalb Jahren Haft in der DDR als Unperson galt. Kampagnen, Zensurmaßnahmen und die Verzögerung der Neuauflage seines 1978 endlich erschienenen und sofort vergriffenen Romans „Es geht seinen Gang oder Mühen in unserer Ebene“ waren die sichtbaren Zeichen. Der Roman ist einer der wichtigsten Prosatexte dieser Zeit, der in genauen Momentaufnahmen das Wesentliche über die gesellschaftliche Verfassung und darüber hinaus über historische Zusammenhänge aussagt. 1979 unterzeichnete Loest eine gegen die öffentliche Diffamierung Stefan Heyms gerichtete Petition und trat aus dem Schriftstellerverband der DDR aus. Die Folgen waren Bespitzelungen des Schriftstellers durch die Staatssicherheit.
Vorangegangen war am 17. November 1976 Wolf Biermanns Aberkennung der Staatsbürgerschaft der DDR nach einem Konzert in Köln auf Einladung der IG Metall. Noch am gleichen Tag unterzeichneten zwölf DDR-Autoren einen offenen Brief gegen diesen Vorgang. Ihnen schlossen sich im Laufe weniger Tage über 70 weitere Künstler und Intellektuelle an. Bereits wenige Jahre später hatte sich die Biermann-Ausbürgerung als historische Zäsur in der kulturpolitischen Entwicklung der DDR erwiesen. So ist auch zu verstehen, dass die spätere, in die DDR hineingeborene Schriftstellergeneration sich mehr und mehr dem System verweigerte. Heiner Müller sagte über sie: „Als sie erwachsen wurden, war dieser Sozialismus nicht mehr als ‚Hoffnung‘ erkennbar, sondern nur noch als deformierte Realität.“
Im Verlauf der späten 1970er und 1980er Jahre entwickelte sich die Literatur in der DDR zunehmend zu einem Medium deutlicher Zivilisationskritik.
Anfang der 1980er Jahre erschien Christa Wolfs Roman „Kassandra“. Diese Seherin ist die historische Frauengestalt der Zeitwende vom Matriarchat zum Patriarchat und zeichnete sich aus durch die Modernität ihres Bewusstseins, die immer wieder Parallelen zur heutigen Frauen- und Friedensbewegung ermöglichte. Damit entwarf Christa Wolf ein anderes Bild einer emanzipierten Frau.
Nicht wenige Schriftsteller verließen teilweise unter politischem Druck bis hinein in die 1980er Jahre die DDR: unter anderem Günter Kunert und Erich Loest, Wolfgang Hilbig und Sarah Kirsch, Wolf Biermann und Manfred Krug. Andere blieben und verweigerten sich. So der 1946 geborene Richard Pietraß, der in einem Gedicht provokativ formulierte: „Wir bauen kein Nest, keine Zelle des Staats./ Am Rande, am Rand ist immer Platz.“
Volker Braun, der den Georg-Büchner-Preis 2000 erhielt, ließ wohl am deutlichsten den Schmerz der verlorenen Utopie spüren. Nicht, dass er einstmals eine glänzende Utopie formuliert hätte. Er war immer ein Zweifler am Müden und Starren des Staates DDR. Das war es, was ihn interessant und unverwechselbar machte. Am 28. Juni 1990 schrieb er in sein Arbeitsbuch: „2 – die herrschsucht der einen partei erlaubte nicht, in alternativen zu denken. alles war eingeschirrt in den triumphzug. jetzt, da viele stimmen reden, demonstriert die parlamentarische mehrheit den machtrausch der inkompetenz. das ist von den protesten der straße geblieben: die possen des hohen hauses. selber in geschenkten kleidern, gibt die volkskammer das volk zum kauf frei. die interessenten machen keine unklaren geschäfte. sie schießen keine müde mark vor, bevor sie nicht das ganze packen: bis zum grund und boden.“ Dass diese Stimme, dieses Zweifeln nicht mehr gehört, nicht mehr gefragt wird, ist der eigentliche Schlag.
Die literarische Entwicklung in der DDR war eine Emanzipationsbewegung, in der sich über vier Jahrzehnte ernst zu nehmende Literatur aus einem didaktischen Gestus löste.
Wie viele deutsche Literaturen gab es zu Ende der 1980er Jahre? Diese Frage hatte zu heißen Diskussionen geführt und die literarischen Auseinandersetzungen infolge der Friedlichen Revolution begleitet. Vermutlich hatte der Ostberliner Schriftsteller Christoph Hein recht, wenn er darauf hinwies, dass z. B. seine Biografie „drüben nicht denkbar“ wäre, „wie umgekehrt die Biografien von (Botho) Strauß oder Kroetz oder (Lothar) Baier in der DDR nicht denkbar sind, (…) solche Autoren kann man in der Tat nicht miteinander verwechseln oder gegeneinander austauschen (…).“
Im frühen Sommer 1990 brachte Christa Wolf eine kleine Erzählung heraus, „Was bleibt“, eine Stasigeschichte. Am 2. Juni erschien in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung ein vernichtender Aufsatz von Frank Schirrmacher über Christa Wolf und ihr Verhältnis zum Staat DDR.
In Folge hatte Christa Wolf wenige Monate später ihre Sorge dem Literaturwissenschaftler Hans Mayer gegenüber deutlich beschrieben: „Es wäre jetzt so wichtig, die richtigen Fragen zu stellen. Selten geschieht das. Ich verhehle meine Furcht nicht, dass in dem Vakuum, das durch Desorientierung entsteht, die Dämonisierung des unbekannten Wesens DDR weiter um sich greift, die teils mit bedacht, teils aus Mangel an Kenntnissen in vollem Gange ist. (…) Wir müssen auf Konkretheit bestehen und aufpassen, dass uns nicht das Leben genommen wird, das wir wirklich geführt haben, und uns stattdessen ein verzerrtes Phantom untergeschoben wird.“
Die Gesellschaftsform, in der ein Land sich befindet oder in die es hineinwächst, hat einen Einfluss auf das Seelenleben, also auch auf die Literatur. Zu dieser Form des Wandels schrieb Volker Braun am 24. April 2006: „die literatur, das sind wir und unsere feinde“/ das schöne wort heines setzt eine gemeinschaft und eine gegerschaft/ und beides sollen wir schätzen als bedingungen unserer arbeit „die gesellschaft findet nun einmal nicht ihr gleichgewicht,/ bis sie sich um die sonne der arbeit dreht“ (marx)/ : die akademie desgleichen d. i. die „organisierung der unorganisierbaren“ …
Dieser Text ist zuerst erschienen in Politik & Kultur 04/2020.