Die Literatur weiß es besser

Innerdeutsche Gemütszustände

In der gesellschaftlichen Realität gestaltet sich das Zusammenwachsen dessen, was zusammengehören soll, langwieriger und komplizierter als zunächst angenommen. 30 Jahre nach Mauerfall und Wiedervereinigung ist das augenfälliger denn je. Unterschiedliche Lebensverhältnisse, Mentalitätsmuster, Wahlergebnisse, Konsumgewohnheiten prägen auch 2020 den ostwestdeutschen Alltag. Die Hoffnungen auf die Herstellung einer „inneren Einheit“ in Deutschland scheinen der Skepsis gewichen, wonach sich eine strukturelle Fremdheit zwischen dem östlichen und dem westlichen Landesteil verfestigt. Diese Fremdheit zwischen Ost und West wurde aber bereits in den 1990er Jahren von der „schönen Literatur“ beschreibend vorweggenommen und auch reflektierend überwunden.

 

Die sozialpsychologische Ursache der innerdeutschen Fremdheit lässt sich als Kombination zweier Faktoren beschreiben: Zum einen wird die gegenseitige Ähnlichkeitserwartung der Ost- und Westdeutschen kollektiv enttäuscht. Zum anderen sind die Ostdeutschen aufgrund der ungleich verteilten Definitionsmacht in der neuen Bundesrepublik tendenziell als „Fremde“ und „Laien“ gegenüber den Westdeutschen als „Einheimische“ und „Experten“ benachteiligt.

 

Hellsichtig wird das Gefühl der Benachteiligung und Übervorteilung von nahezu allen Autorinnen und Autoren der kritisch-loyalen DDR-Literatur formuliert. Ostdeutschland und sich selbst als Verlierer betrachtend, beschreiben die Reformsozialisten den Transformationsprozess als kapitalistischen Eroberungsfeldzug: Elf Tage nach der Grenzöffnung schreibt Christoph Hein verzweifelt an den Rowohlt-Verlag: „Wenn wir scheitern, frißt uns McDonald.“ Im Dezember 1989 bescheinigt Stefan Heym seinen Mitbürgerinnen und Mitbürgern in der DDR wütend, dass sie von „westlichen Krämern“ hinters Licht geführt worden seien: „eine Horde von Wütigen, die Rücken an Bauch gedrängt, Hertie und Bilka zustrebten auf der Jagd nach dem glitzernden Tinnef“. Volker Braun bezeichnet Transformation und Wiedervereinigung Anfang 1991 in einem Interview desillusioniert als „Einmarsch des Kapitalismus in eine herrenlose Gegend“. Im September 1991 erscheinen Christa Wolf die westdeutschen Eindringlinge als die „neuen Weltherren“, die „die Rechtsmaßstäbe der Sieger“ anlegen, um ihr „Bedürfnis nach Rache und nach Selbstbeweihräucherung“ zu befriedigen.

 

Auf ganz andere Art beschreiben aus der DDR ausgereiste Autoren die Fremdheit zwischen Ost und West. Wo die Reformsozialisten die DDR-Bürger dafür kritisieren, dass sie 1989/90 kein erneutes sozialistisches Experiment mittragen, da gießen die in den Westen ausgereisten Autoren Kübel voll Hohn und Spott über die verschreckten und desorientierten Ostdeutschen aus, deren Klagen in Richtung Westen sie als angemaßte Opferrolle, als ungerechtfertigtes Selbstmitleid und als billige Larmoyanz interpretieren. Monika Maron: „Die neue ostdeutsche Einheitsfront, die von der PDS bis zu den Neonazis reicht, verrührt die DDR-Geschichte zu einem einzigen Opferbrei, die eigene Vergangenheit wird unter dem neuen Feindbild begraben, ein neues Wir ist geboren, ‚wir aus dem Osten‘; endlich dürfen alle Opfer sein, Opfer des Westens.“ Auch Bernd Wagner und Wolf Biermann übertragen ihre radikale Kritik am ostdeutschen Realsozialismus nach dem Ende der DDR auf die „gelernten Untertanen“ (Biermann), ihr Zorn auf die DDR mutiert zum Abscheu gegen die ehemaligen DDR-Bürger: „Dummheit, Korrumpierbarkeit in jeder Richtung, Faulheit, Feigheit nach oben und Brutalität nach unten“ (Wagner). Die „kranken Ostdeutschen“ erscheinen als „Volk wie ein Haufen verhaltensgestörter Heimkinder, die sich wundern, daß es plötzlich keine geladenen Stacheldrahtzäune mehr gibt, aber auch nicht den täglichen Schweinefraß aus der Großküche“ (Biermann).

 

Während somit die allermeisten Autorinnen und Autoren in der ersten Phase der Wendeliteratur, der Politisierung, die gegenseitigen Fremdheitsmuster nicht nur konstatieren, sondern auch praktizieren, gehen der Ostdeutsche Günter de Bruyn und der Westdeutsche Peter Schneider einen anderen Weg: Sie reflektieren die gegenseitigen Stereotype, um zu einer innerdeutschen Annäherung und Verständigung zu gelangen. Bereits 1990/91 beschreiben sie „wechselseitige Projektionen“ (Schneider) und „Vorstellungsschablonen“ (de Bruyn), die bis heute aktuell geblieben sind. Mit wenigen ausdrucksstarken Strichen gelingt es den beiden Autoren, das jeweilige Bild nachzuzeichnen, das sich Ost- und Westdeutsche voneinander machen. So redet das „DDR-Klischee eines Westbürgers“ „laut und sehr ungezwungen“, „spricht, wenn er nicht von Italien- und Spanienreisen erzählt, von Leistung und Geld“ und kehrt dabei immer „für seinen Gesprächspartner, ob er will oder nicht, den Überlegenen heraus“ (de Bruyn).

 

Die Kulturtechniken des „Besserwessis“ sind in einer gesellschaftlichen Umgebung entstanden, die den Ostdeutschen nach erstem Augenschein als wenig erstrebenswert bis verwerflich erscheint: „Sie stören sich an der Kälte der Konkurrenzgesellschaft, an der Glitzerfassade, hinter der nichts steckt, an der allgemeinen Rücksichtslosigkeit und am Materialismus.“ Dieses östliche Stereotyp von der Bundesrepublik besagt weiterhin, dass „es im Westen ‚kalt‘ sei, keine ‚echte Freundschaft‘ gebe, keine ‚Gemütlichkeit'“. Dem steht das westliche Klischee des selbstmitleidigen „Jammerossis“ gegenüber, dessen „Anspruchsverhalten“ noch durch die begleitende „Vorwurfshaltung“ verschlimmert werde (Schneider).

Arne Born
Arne Born ist Literaturwissenschaftler und hat im Wehrhahn Verlag die "Literaturgeschichte der deutschen Einheit 1989–2000" veröffentlicht.
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