„Die Ostdeutschen gibt es nicht“

Der "dreifache" Roland Jahn im Gespräch

Hatten wir vor 30 Jahren vielleicht den Beginn einer Revolution, die dann doch keine werden wollte, sollte oder durfte? Werden wir im nächsten Jahr mit 30 Jahren deutscher Einheit etwas feiern, das vielleicht mehr aus äußerer Hülle als aus innerer Substanz besteht?
Nein, ich denke, dass eine friedliche Revolution stattfand, die die Verhältnisse grundlegend verändert hat. Es gibt einen prinzipiellen Unterschied zwischen der SED-Diktatur und unserer Demokratie. Wir sollten dankbar sein, dass mutige Menschen diese friedliche Revolution gewagt haben. Selbst die, die damals das System getragen haben, die Verantwortung für das geschehene Unrecht hatten, die sich gegen diese friedliche Revolution gewehrt hatten, können heute dankbar sein, dass sie in einer Demokratie leben und alle Grundrechte nutzen können. Über das Weitere kann man streiten.

 

Das „dritte Leben“ des Roland Jahn begann 2011, Sie wurden Bundesbeauftragter für die Stasi-Unterlagen, der dritte nach Joachim Gauck und Marianne Birthler. Beim Amtsantritt nannten Sie es „unerträglich“, dass in dieser Behörde damals knapp 50 ehemalige Stasi-Leute arbeiteten. Jeder von denen sei „ein Schlag ins Gesicht der Stasi-Opfer“. Das war eine viel härtere Position als die Ihrer Amtsvorgänger. Warum?
Es war für die Menschen, die im Stasi-Gefängnis saßen, eine Zumutung, von ehemaligen Stasi-Offizieren nach dem Ausweis gefragt zu werden, wenn sie in diese Behörde kommen. Das hat sie verletzt. Dieser Konflikt musste bereinigt werden. Wir sind einen Weg gegangen, der menschlich respektvoll und rechtsstaatlich korrekt ist. Wir haben die ehemaligen Stasi-Offiziere in andere Bundesverwaltungen versetzt. Das ist etwas, was gerade den Opfern der SED-Diktatur den Glauben an den Rechtsstaat wiedergegeben hat.

 

Sie waren einer der Allerersten, der seine Stasi-Akte einsehen konnte, schon im Februar 1990. Der Journalist Jahn begleitete ein Bürgerkomitee, das ein Stasi-Archiv sicherte. An Ihrem eigenen Beispiel wurde demonstriert, wie man überhaupt eine Akte findet. Was war das für ein Erlebnis?
Dieser erste Blick in die Akte machte mir deutlich, wie wichtig es ist, dass die Menschen Einblick nehmen können in die Informationen, die die Stasi über sie gesammelt hat. In diesen Akten steckt ein Stück gestohlenes Leben. Man sieht, wo einem die Selbstbestimmung geraubt worden ist. Man sieht, wie die Stasi in dieser Diktatur bis tief in den Alltag eingegriffen hat. Es ist ganz wichtig, dass den Menschen diese Aufklärung durch Akteneinsicht dauerhaft möglich ist.

 

Vor dem Hintergrund dieser Eigenerfahrung und der Bedeutung, dass die Menschen dauerhaft Einblick in die Dokumente nehmen können, verstehen es viele nicht, dass Sie dem jetzt gefassten Bundestagsbeschluss zustimmen, die Stasi-Unterlagen-Behörde ins Bundesarchiv einzufügen.
Gerade, weil ich erlebt habe, wie die Stasi in mein Leben eingegriffen hat; gerade, weil ich als Bürger mit dabei war, als die Akten gesichert und gerettet wurden; gerade, weil ich als Journalist diese Akten immer wieder zur Aufklärung über die SED-Diktatur genutzt habe, fühle ich mich als Bundesbeauftragter verpflichtet, Entscheidungen des Bundestages auf den Weg zu bringen, die die Akten unbegrenzt für die Zukunft sichern. Wir bündeln Kompetenz und Ressourcen gemeinsam mit dem Bundesarchiv. Es geht um Investitionen für die Konservierung der Dokumente, die Digitalisierung und die bessere Nutzung der Unterlagen. Das Stasi-Unterlagen-Archiv wird Teil des Gedächtnisses der Nation.

 

Aber wird man zukunftsfähig, indem die Behörde, die sich bislang darum gekümmert hat, abgeschafft, abgewickelt wird, wie Ihre Kritiker sagen?
Der Beschluss ist das Ergebnis eines langen Abstimmungsprozesses, insbesondere mit den Opferverbänden. Im Kern steht, dass die Akten für die Zukunft gesichert sind und der Blick nicht nur auf die Stasi gerichtet ist, sondern auf die SED-Diktatur insgesamt. In der ehemaligen Stasi-Zentrale in Berlin-Lichtenberg soll ein Archivzentrum zur SED-Diktatur errichtet werden, wo die Akten der Staatssicherheit, aber auch die Akten anderer DDR-Ministerien, dazu gehören z. B. die Akten des Strafvollzugs, die jetzt schon im Bundesarchiv sind, sowie die Akten der SED, der Massenorganisationen, in einem Kontext betrachtet werden können. Wir erweitern den Horizont. Und zusätzlich soll aus dem Bundesbeauftragten für die Stasi-Unterlagen ein Bundesbeauftragter für die Opfer der SED-Diktatur werden.

 

Pro Jahr werden immer noch über 40.000 Anträge auf Akteneinsicht gestellt. Was ändert sich für die Bürger durch die Zusammenlegung der Institutionen?
Das, was sich bewährt hat, bleibt erhalten. Das war die Voraussetzung dafür, dass wir diesen Weg in die Zukunft gehen. Das Stasi-Unterlagen-Gesetz, in dem geregelt ist, wie die Bürger Einsicht bekommen, wie die öffentlichen Stellen diese Akten nutzen, wie Journalisten und Wissenschaftler darin forschen und aufklären können über SED-Diktatur, ist weiter die Basis für unsere Arbeit. Die Bürger werden weiterhin in ihre Akten schauen können, auch mit Außenstellen in den ostdeutschen Ländern, an den historischen Orten, wo die Akten erobert worden sind. Dieses Stasi-Unterlagen-Archiv wird sichtbar eigenständig als Symbol dieser friedlichen Revolution wahrgenommen werden können.

 

Gleichwohl gibt es einen Protest vieler Menschen, zu denen auch Ihre Amtsvorgängerin Marianne Birthler gehört, die es als Fehler bezeichnen, die eigenständige Behörde nun zu überführen oder einer Institution anzugliedern, die politischen Weisungen unterworfen werden könnte.
Das ist aus der Luft gegriffen. Das Bundesarchiv, eine Behörde, ist keinen politischen Weisungen ausgesetzt. Es gab seit der Existenz des Bundesarchivs keinen Versuch, eine Herausgabe oder eine Nutzung von Akten zu verhindern oder zu beschränken. Das heißt, hier zählt Recht und Gesetz, konkret: das Stasi-Unterlagen-Gesetz, nach dem wir auch jetzt arbeiten. An dieses Stasi-Unterlagen-Gesetz muss sich der Präsident des Bundesarchivs genauso halten wie der Bundesbeauftragte für die Stasi-Unterlagen.

 

Vielen Dank.

 

Dieses Interview ist zuerst erschienen in Politik & Kultur 11/2019

Roland Jahn und Hans Jessen
Roland Jahn ist Bundesbeauftragter für die Unterlagen des Staatssicherheitsdienstes der ehemaligen Deutschen Demokratischen Republik (BStU). Hans Jessen ist freier Journalist und ehemaliger ARD-Hauptstadtkorrespondent.
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