Roland Jahn und Hans Jessen - 30. Oktober 2019 Kulturrat_Logo_72dpi-01

Ost-West-Perspektiven

"Die Ostdeutschen gibt es nicht"


Der "dreifache" Roland Jahn im Gespräch

Geboren 1953 in Jena, SED-Gegner, Journalist, Bürgerrechtler, Bundesbeauftragter für die Unterlagen des Staatssicherheitsdienstes der ehemaligen Deutschen Demokratischen Republik (BStU) – das und mehr trifft auf Roland Jahn zu. Hans Jessen spricht mit ihm über seinen Werdegang und seine Erfahrungen in DDR und BRD.

 

Hans Jessen: Herr Jahn, Sie sind seit acht Jahren Bundesbeauftragter für die Stasi-Unterlagen, zuvor haben Sie fast 30 als Journalist in West-Berlin gearbeitet, mit besonderen Verbindungen in die frühere DDR, aus der Sie 1983 rausgeschmissen worden waren, weil das System einen Oppositionellen loswerden wollte. Gibt es so etwas wie einen gemeinsamen Nenner in diesem „dreifachen Jahn“?

Roland Jahn: Den gemeinsamen Nenner gibt es: neugierig sein auf das Leben und anderen weitererzählen, was ich erfahren habe. So war ich schon als Jugendlicher, der die DDR von innen kennengelernt hat. Ich wollte immer weitererzählen, wenn mir Dinge aufgestoßen sind. Habe dann auch angefangen, Nachrichten in den Westen zu geben, z. B. über Verhaftungen, damit diese über Westfernsehen und -radio wieder in die DDR hineingesendet werden.

Einer unserer Freunde aus der Jenaer Szene, der Schriftsteller Lutz Rathenow, studierte in Ost-Berlin und kannte viele West-Journalisten. Ich habe immer versucht, Kurierwege zu finden, für freie Information zu sorgen.

Das ist im Prinzip, was diese sozusagen dreigeteilte Person verbindet: immer wieder sich ein Stück Freiheit nehmen – in dem Fall: Freiheit der Information.

 

1981 kam Ihr Freund Matthias Domaschk in der Stasi-Haft ums Leben. Das war ein Einschnitt.
Das hat nicht nur mich, sondern die gesamte Jugendszene in Jena sehr getroffen. Uns allen war klar: Es geht nicht um ein „Spiel“ mit der Staatssicherheit, sondern um Leben und Tod. Wir haben uns nicht als große politische Akteure verstanden, sondern als Jugendliche, die ein selbstbestimmtes Leben führen wollten. Plötzlich traf es einen von uns. Er kam mit 23 Jahren in der Stasi-Haft zu Tode. Damit stellte sich die Frage: Bleiben oder gehen? Mit Ausreiseantrag die DDR verlassen oder vielleicht sogar unter Lebensgefahr den Gang über die grüne Grenze riskieren? Ich wollte bleiben, war verbunden mit Freunden, Familie und Heimat. Auch wollte ich diese Heimat nicht den SED-Bonzen überlassen. Der Tod des Freundes war aber Anlass zu sagen, wir müssen mehr tun, damit unser Traum einer gerechten Gesellschaft in Erfüllung geht.

 

Ein Jahr nach dem Tod Ihres Freundes haben Sie mit einer subversiven Aktion eine Öffentlichkeit über dessen Tod im Stasi-Gefängnis hergestellt.

Die Herausforderung war: radikal und klar Position beziehen, aber andererseits nicht mit dem Kopf gegen die Wand rennen und weggefangen werden, selbst im Knast landen. Ich habe – vielleicht naiv – nach Aktionsformen gesucht, die mit den Strafgesetzen der DDR möglichst nicht erfasst werden konnten. Es wäre strafbar gewesen, Flugblätter über den Tod im Stasi-Knast zu drucken. Aber es gab die Bezirkszeitung der SED. Dort habe ich eine Todesanzeige aufgegeben, dass mein Freund im 24. Jahr aus dem Leben gerissen wurde. Das war natürlich eine politische Botschaft. Ich habe mir dann einige Dutzend Zeitungen besorgt, diese Todesanzeigen ausgeschnitten und nachts heimlich angeklebt. Parallel dazu die Information an Freunde in West-Berlin gegeben, sodass das dann auch im RIAS, der in Jena zu hören war, gesendet wurde. Menschen haben sowohl die Nachricht im Radio gehört als auch die Zeitungsanzeigen gesehen. Das war schon ein deutlicher Protest gegen das, was geschehen war. Und die Parteizeitung hat es gedruckt.

 

Im selben Jahr, 1982, wurden sie selbst nach weiteren Protestaktionen zu einer Haftstrafe verurteilt. Nach Ihrer Entlassung wurden Sie in einen Eisenbahnwaggon Richtung Westen verfrachtet. Zwangsweiser Rausschmiss im Sinne des Wortes, mit angelegten Handfesseln. Den West-Pass wollten Sie zunächst nicht annehmen. Sie haben dann Ihre Kontakte in die DDR genutzt, um West-Medien mit Ost-Informationen zu versorgen und technisches Gerät in die DDR zu schmuggeln.
Alle Informationen, die über die DDR in den West-Medien zu sehen waren, haben natürlich die Menschen politisiert. Das ging mir selbst so, als ich noch in der DDR lebte. Es war wichtig, dass die Menschen erfahren von Umweltzerstörung, Altstadtzerfall, Menschenrechtsverletzungen. Und dass sie sehen, es gibt Proteste dagegen. Ich habe in West-Berlin Technik besorgt und an meine Freunde im Osten geschickt, angefangen von Fotoapparaten über Tonbandgeräten bis Videokameras. Die Freunde haben dann dafür gesorgt, dass bespielte Videokassetten wieder in den Westen kamen, z. B. auch von Demonstrationen. Ich konnte meine Arbeit beim Sender Freies Berlin und anderen Medien dafür nutzen, diese Informationen in die Wohnzimmer der DDR zu bringen.

 

Im Herbst 1989 sahen DDR-Bürger im Westfernsehen Bilder der Massendemonstrationen in Leipzig. Die Aufnahmen hatten Ihre Freunde heimlich gemacht.
Bis dahin gab es eine Entwicklung. Erst waren es Dokumente des geschehenen Unrechts, die wir gesendet haben. Mutige Freunde haben unter hohem Risiko Dinge gefilmt, z. B. die Uranhalden im Süden der DDR. Menschenrechtsverletzungen wurden benannt. Die Wahlfälschungen. Höhepunkt dieser Filmaufnahmen waren die Bilder der großen Demonstration in Leipzig vom 9. Oktober. Meine Freunde haben dort in Leipzig von einem Kirchturm aus die 70.000 mit ihren Freiheitsparolen gefilmt und dabei auch dokumentiert, dass der Staat es nicht gewagt hat einzugreifen. Als diese Bilder dann in ARD und ZDF gesendet wurden, haben Menschen in der ganzen DDR gesehen, wie mutig Menschen in Leipzig auf die Straße gegangen sind, und haben dadurch eine Ermutigung für sich selbst erfahren. Vor allen Dingen die Grundbotschaft dieser Demonstration: keine Gewalt. Und: Wir sind das Volk. Die Aufnahmen haben dazu beigetragen, dass diese Revolution friedlich sein konnte.

 

Pegida- oder AfD-Demonstrationen laufen heute mit demselben Sprechchor wie die Leipziger Demonstranten 1989: „Wir sind das Volk“. Teilweise sind es dieselben Personen. Das ist eine Misstrauenserklärung gegen staatliche Institutionen, damals wie heute. Die westdeutsche Sicht kann das kaum verstehen. Wirkt hier eine Art innerer Distanz zu einem als ungerecht und willkürlich erlebten Staats- und Gesellschaftssystem als Zerrüttungserfahrung von Menschen mit Ost-Sozialisation heute besonders stark fort?
Ich lehne Verallgemeinerungen ab. Für mich gibt es nicht „die Ostdeutschen“. Diejenigen, die jetzt den Parolen der AfD hinterherrennen, sehe ich nur als eine Gruppe an. Eine Gruppe, die, aus welchen Gründen auch immer, unzufrieden ist. Diese Gruppe wird instrumentalisiert. Die Gleichsetzung von Willkür in der DDR mit staatlichem Handeln heute geht gar nicht, das ist eine Verhöhnung der Opfer der SED-Diktatur. Das ist auch ein Missbrauch der Ansprüche, die in der friedlichen Revolution formuliert wurden. Für solche Töne, die hier bei vielen Demonstrationen angeschlagen werden, wäre man in der DDR sofort in den Knast gegangen. Allein das macht klar, dass Gleichsetzung sich verbietet.

Hatten wir vor 30 Jahren vielleicht den Beginn einer Revolution, die dann doch keine werden wollte, sollte oder durfte? Werden wir im nächsten Jahr mit 30 Jahren deutscher Einheit etwas feiern, das vielleicht mehr aus äußerer Hülle als aus innerer Substanz besteht?
Nein, ich denke, dass eine friedliche Revolution stattfand, die die Verhältnisse grundlegend verändert hat. Es gibt einen prinzipiellen Unterschied zwischen der SED-Diktatur und unserer Demokratie. Wir sollten dankbar sein, dass mutige Menschen diese friedliche Revolution gewagt haben. Selbst die, die damals das System getragen haben, die Verantwortung für das geschehene Unrecht hatten, die sich gegen diese friedliche Revolution gewehrt hatten, können heute dankbar sein, dass sie in einer Demokratie leben und alle Grundrechte nutzen können. Über das Weitere kann man streiten.

 

Das „dritte Leben“ des Roland Jahn begann 2011, Sie wurden Bundesbeauftragter für die Stasi-Unterlagen, der dritte nach Joachim Gauck und Marianne Birthler. Beim Amtsantritt nannten Sie es „unerträglich“, dass in dieser Behörde damals knapp 50 ehemalige Stasi-Leute arbeiteten. Jeder von denen sei „ein Schlag ins Gesicht der Stasi-Opfer“. Das war eine viel härtere Position als die Ihrer Amtsvorgänger. Warum?
Es war für die Menschen, die im Stasi-Gefängnis saßen, eine Zumutung, von ehemaligen Stasi-Offizieren nach dem Ausweis gefragt zu werden, wenn sie in diese Behörde kommen. Das hat sie verletzt. Dieser Konflikt musste bereinigt werden. Wir sind einen Weg gegangen, der menschlich respektvoll und rechtsstaatlich korrekt ist. Wir haben die ehemaligen Stasi-Offiziere in andere Bundesverwaltungen versetzt. Das ist etwas, was gerade den Opfern der SED-Diktatur den Glauben an den Rechtsstaat wiedergegeben hat.

 

Sie waren einer der Allerersten, der seine Stasi-Akte einsehen konnte, schon im Februar 1990. Der Journalist Jahn begleitete ein Bürgerkomitee, das ein Stasi-Archiv sicherte. An Ihrem eigenen Beispiel wurde demonstriert, wie man überhaupt eine Akte findet. Was war das für ein Erlebnis?
Dieser erste Blick in die Akte machte mir deutlich, wie wichtig es ist, dass die Menschen Einblick nehmen können in die Informationen, die die Stasi über sie gesammelt hat. In diesen Akten steckt ein Stück gestohlenes Leben. Man sieht, wo einem die Selbstbestimmung geraubt worden ist. Man sieht, wie die Stasi in dieser Diktatur bis tief in den Alltag eingegriffen hat. Es ist ganz wichtig, dass den Menschen diese Aufklärung durch Akteneinsicht dauerhaft möglich ist.

 

Vor dem Hintergrund dieser Eigenerfahrung und der Bedeutung, dass die Menschen dauerhaft Einblick in die Dokumente nehmen können, verstehen es viele nicht, dass Sie dem jetzt gefassten Bundestagsbeschluss zustimmen, die Stasi-Unterlagen-Behörde ins Bundesarchiv einzufügen.
Gerade, weil ich erlebt habe, wie die Stasi in mein Leben eingegriffen hat; gerade, weil ich als Bürger mit dabei war, als die Akten gesichert und gerettet wurden; gerade, weil ich als Journalist diese Akten immer wieder zur Aufklärung über die SED-Diktatur genutzt habe, fühle ich mich als Bundesbeauftragter verpflichtet, Entscheidungen des Bundestages auf den Weg zu bringen, die die Akten unbegrenzt für die Zukunft sichern. Wir bündeln Kompetenz und Ressourcen gemeinsam mit dem Bundesarchiv. Es geht um Investitionen für die Konservierung der Dokumente, die Digitalisierung und die bessere Nutzung der Unterlagen. Das Stasi-Unterlagen-Archiv wird Teil des Gedächtnisses der Nation.

 

Aber wird man zukunftsfähig, indem die Behörde, die sich bislang darum gekümmert hat, abgeschafft, abgewickelt wird, wie Ihre Kritiker sagen?
Der Beschluss ist das Ergebnis eines langen Abstimmungsprozesses, insbesondere mit den Opferverbänden. Im Kern steht, dass die Akten für die Zukunft gesichert sind und der Blick nicht nur auf die Stasi gerichtet ist, sondern auf die SED-Diktatur insgesamt. In der ehemaligen Stasi-Zentrale in Berlin-Lichtenberg soll ein Archivzentrum zur SED-Diktatur errichtet werden, wo die Akten der Staatssicherheit, aber auch die Akten anderer DDR-Ministerien, dazu gehören z. B. die Akten des Strafvollzugs, die jetzt schon im Bundesarchiv sind, sowie die Akten der SED, der Massenorganisationen, in einem Kontext betrachtet werden können. Wir erweitern den Horizont. Und zusätzlich soll aus dem Bundesbeauftragten für die Stasi-Unterlagen ein Bundesbeauftragter für die Opfer der SED-Diktatur werden.

 

Pro Jahr werden immer noch über 40.000 Anträge auf Akteneinsicht gestellt. Was ändert sich für die Bürger durch die Zusammenlegung der Institutionen?
Das, was sich bewährt hat, bleibt erhalten. Das war die Voraussetzung dafür, dass wir diesen Weg in die Zukunft gehen. Das Stasi-Unterlagen-Gesetz, in dem geregelt ist, wie die Bürger Einsicht bekommen, wie die öffentlichen Stellen diese Akten nutzen, wie Journalisten und Wissenschaftler darin forschen und aufklären können über SED-Diktatur, ist weiter die Basis für unsere Arbeit. Die Bürger werden weiterhin in ihre Akten schauen können, auch mit Außenstellen in den ostdeutschen Ländern, an den historischen Orten, wo die Akten erobert worden sind. Dieses Stasi-Unterlagen-Archiv wird sichtbar eigenständig als Symbol dieser friedlichen Revolution wahrgenommen werden können.

 

Gleichwohl gibt es einen Protest vieler Menschen, zu denen auch Ihre Amtsvorgängerin Marianne Birthler gehört, die es als Fehler bezeichnen, die eigenständige Behörde nun zu überführen oder einer Institution anzugliedern, die politischen Weisungen unterworfen werden könnte.
Das ist aus der Luft gegriffen. Das Bundesarchiv, eine Behörde, ist keinen politischen Weisungen ausgesetzt. Es gab seit der Existenz des Bundesarchivs keinen Versuch, eine Herausgabe oder eine Nutzung von Akten zu verhindern oder zu beschränken. Das heißt, hier zählt Recht und Gesetz, konkret: das Stasi-Unterlagen-Gesetz, nach dem wir auch jetzt arbeiten. An dieses Stasi-Unterlagen-Gesetz muss sich der Präsident des Bundesarchivs genauso halten wie der Bundesbeauftragte für die Stasi-Unterlagen.

 

Vielen Dank.

 

Dieses Interview ist zuerst erschienen in Politik & Kultur 11/2019


Copyright: Alle Rechte bei Deutscher Kulturrat

Adresse: https://www.kulturrat.de/themen/heimat/ost-west-perspektiven/die-ostdeutschen-gibt-es-nicht/