„Die Ostdeutschen gibt es nicht“

Der "dreifache" Roland Jahn im Gespräch

Geboren 1953 in Jena, SED-Gegner, Journalist, Bürgerrechtler, Bundesbeauftragter für die Unterlagen des Staatssicherheitsdienstes der ehemaligen Deutschen Demokratischen Republik (BStU) – das und mehr trifft auf Roland Jahn zu. Hans Jessen spricht mit ihm über seinen Werdegang und seine Erfahrungen in DDR und BRD.

 

Hans Jessen: Herr Jahn, Sie sind seit acht Jahren Bundesbeauftragter für die Stasi-Unterlagen, zuvor haben Sie fast 30 als Journalist in West-Berlin gearbeitet, mit besonderen Verbindungen in die frühere DDR, aus der Sie 1983 rausgeschmissen worden waren, weil das System einen Oppositionellen loswerden wollte. Gibt es so etwas wie einen gemeinsamen Nenner in diesem „dreifachen Jahn“?

Roland Jahn: Den gemeinsamen Nenner gibt es: neugierig sein auf das Leben und anderen weitererzählen, was ich erfahren habe. So war ich schon als Jugendlicher, der die DDR von innen kennengelernt hat. Ich wollte immer weitererzählen, wenn mir Dinge aufgestoßen sind. Habe dann auch angefangen, Nachrichten in den Westen zu geben, z. B. über Verhaftungen, damit diese über Westfernsehen und -radio wieder in die DDR hineingesendet werden.

Einer unserer Freunde aus der Jenaer Szene, der Schriftsteller Lutz Rathenow, studierte in Ost-Berlin und kannte viele West-Journalisten. Ich habe immer versucht, Kurierwege zu finden, für freie Information zu sorgen.

Das ist im Prinzip, was diese sozusagen dreigeteilte Person verbindet: immer wieder sich ein Stück Freiheit nehmen – in dem Fall: Freiheit der Information.

 

1981 kam Ihr Freund Matthias Domaschk in der Stasi-Haft ums Leben. Das war ein Einschnitt.
Das hat nicht nur mich, sondern die gesamte Jugendszene in Jena sehr getroffen. Uns allen war klar: Es geht nicht um ein „Spiel“ mit der Staatssicherheit, sondern um Leben und Tod. Wir haben uns nicht als große politische Akteure verstanden, sondern als Jugendliche, die ein selbstbestimmtes Leben führen wollten. Plötzlich traf es einen von uns. Er kam mit 23 Jahren in der Stasi-Haft zu Tode. Damit stellte sich die Frage: Bleiben oder gehen? Mit Ausreiseantrag die DDR verlassen oder vielleicht sogar unter Lebensgefahr den Gang über die grüne Grenze riskieren? Ich wollte bleiben, war verbunden mit Freunden, Familie und Heimat. Auch wollte ich diese Heimat nicht den SED-Bonzen überlassen. Der Tod des Freundes war aber Anlass zu sagen, wir müssen mehr tun, damit unser Traum einer gerechten Gesellschaft in Erfüllung geht.

 

Ein Jahr nach dem Tod Ihres Freundes haben Sie mit einer subversiven Aktion eine Öffentlichkeit über dessen Tod im Stasi-Gefängnis hergestellt.

Die Herausforderung war: radikal und klar Position beziehen, aber andererseits nicht mit dem Kopf gegen die Wand rennen und weggefangen werden, selbst im Knast landen. Ich habe – vielleicht naiv – nach Aktionsformen gesucht, die mit den Strafgesetzen der DDR möglichst nicht erfasst werden konnten. Es wäre strafbar gewesen, Flugblätter über den Tod im Stasi-Knast zu drucken. Aber es gab die Bezirkszeitung der SED. Dort habe ich eine Todesanzeige aufgegeben, dass mein Freund im 24. Jahr aus dem Leben gerissen wurde. Das war natürlich eine politische Botschaft. Ich habe mir dann einige Dutzend Zeitungen besorgt, diese Todesanzeigen ausgeschnitten und nachts heimlich angeklebt. Parallel dazu die Information an Freunde in West-Berlin gegeben, sodass das dann auch im RIAS, der in Jena zu hören war, gesendet wurde. Menschen haben sowohl die Nachricht im Radio gehört als auch die Zeitungsanzeigen gesehen. Das war schon ein deutlicher Protest gegen das, was geschehen war. Und die Parteizeitung hat es gedruckt.

 

Im selben Jahr, 1982, wurden sie selbst nach weiteren Protestaktionen zu einer Haftstrafe verurteilt. Nach Ihrer Entlassung wurden Sie in einen Eisenbahnwaggon Richtung Westen verfrachtet. Zwangsweiser Rausschmiss im Sinne des Wortes, mit angelegten Handfesseln. Den West-Pass wollten Sie zunächst nicht annehmen. Sie haben dann Ihre Kontakte in die DDR genutzt, um West-Medien mit Ost-Informationen zu versorgen und technisches Gerät in die DDR zu schmuggeln.
Alle Informationen, die über die DDR in den West-Medien zu sehen waren, haben natürlich die Menschen politisiert. Das ging mir selbst so, als ich noch in der DDR lebte. Es war wichtig, dass die Menschen erfahren von Umweltzerstörung, Altstadtzerfall, Menschenrechtsverletzungen. Und dass sie sehen, es gibt Proteste dagegen. Ich habe in West-Berlin Technik besorgt und an meine Freunde im Osten geschickt, angefangen von Fotoapparaten über Tonbandgeräten bis Videokameras. Die Freunde haben dann dafür gesorgt, dass bespielte Videokassetten wieder in den Westen kamen, z. B. auch von Demonstrationen. Ich konnte meine Arbeit beim Sender Freies Berlin und anderen Medien dafür nutzen, diese Informationen in die Wohnzimmer der DDR zu bringen.

 

Im Herbst 1989 sahen DDR-Bürger im Westfernsehen Bilder der Massendemonstrationen in Leipzig. Die Aufnahmen hatten Ihre Freunde heimlich gemacht.
Bis dahin gab es eine Entwicklung. Erst waren es Dokumente des geschehenen Unrechts, die wir gesendet haben. Mutige Freunde haben unter hohem Risiko Dinge gefilmt, z. B. die Uranhalden im Süden der DDR. Menschenrechtsverletzungen wurden benannt. Die Wahlfälschungen. Höhepunkt dieser Filmaufnahmen waren die Bilder der großen Demonstration in Leipzig vom 9. Oktober. Meine Freunde haben dort in Leipzig von einem Kirchturm aus die 70.000 mit ihren Freiheitsparolen gefilmt und dabei auch dokumentiert, dass der Staat es nicht gewagt hat einzugreifen. Als diese Bilder dann in ARD und ZDF gesendet wurden, haben Menschen in der ganzen DDR gesehen, wie mutig Menschen in Leipzig auf die Straße gegangen sind, und haben dadurch eine Ermutigung für sich selbst erfahren. Vor allen Dingen die Grundbotschaft dieser Demonstration: keine Gewalt. Und: Wir sind das Volk. Die Aufnahmen haben dazu beigetragen, dass diese Revolution friedlich sein konnte.

 

Pegida- oder AfD-Demonstrationen laufen heute mit demselben Sprechchor wie die Leipziger Demonstranten 1989: „Wir sind das Volk“. Teilweise sind es dieselben Personen. Das ist eine Misstrauenserklärung gegen staatliche Institutionen, damals wie heute. Die westdeutsche Sicht kann das kaum verstehen. Wirkt hier eine Art innerer Distanz zu einem als ungerecht und willkürlich erlebten Staats- und Gesellschaftssystem als Zerrüttungserfahrung von Menschen mit Ost-Sozialisation heute besonders stark fort?
Ich lehne Verallgemeinerungen ab. Für mich gibt es nicht „die Ostdeutschen“. Diejenigen, die jetzt den Parolen der AfD hinterherrennen, sehe ich nur als eine Gruppe an. Eine Gruppe, die, aus welchen Gründen auch immer, unzufrieden ist. Diese Gruppe wird instrumentalisiert. Die Gleichsetzung von Willkür in der DDR mit staatlichem Handeln heute geht gar nicht, das ist eine Verhöhnung der Opfer der SED-Diktatur. Das ist auch ein Missbrauch der Ansprüche, die in der friedlichen Revolution formuliert wurden. Für solche Töne, die hier bei vielen Demonstrationen angeschlagen werden, wäre man in der DDR sofort in den Knast gegangen. Allein das macht klar, dass Gleichsetzung sich verbietet.

Roland Jahn und Hans Jessen
Roland Jahn ist Bundesbeauftragter für die Unterlagen des Staatssicherheitsdienstes der ehemaligen Deutschen Demokratischen Republik (BStU). Hans Jessen ist freier Journalist und ehemaliger ARD-Hauptstadtkorrespondent.
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