Neben der bereits in den 1990er Jahren antizipierten deutsch-deutschen Fremdheit hat die Wendeliteratur dieses Zeitraums eine außerordentliche Leistung vollbracht, die bis jetzt unbemerkt geblieben ist: Der vom Feuilleton vehement geforderte große Wenderoman wurde bereits in drei Teilen zwischen 1997 und 2001 veröffentlicht. Marcel Reich-Ranicki, der Literaturpapst dieser Zeit, sah den „Faust auf der Straße liegen“ und war daher – wie praktisch die gesamte Literaturkritik – umso enttäuschter, dass die Belletristik ihn nicht aufhebe. Er übersah, dass Ingo Schulzes „Simple Storys“ (1998), Jan Grohs „Colón“ (2001) und Bernd Wagners „Paradies“ (1997) nach Art einer Trilogie als der große Wenderoman gelten können. Diese Hauptwerke des Wendejahrzehnts überzeugen zum einen künstlerisch durch einen modernen Realismus, der sozial engagiert, (auto-)biografisch fundiert und ästhetisch reflektiert ist. Zum anderen gestalten sie exemplarisch die drei wichtigsten Erscheinungsformen der die gesamte Literatur zur deutschen Einheit prägenden Fremdheit zwischen Ost und West.
Ingo Schulze zeigt die innerdeutsche Fremdheit als Einbruch des unbekannten Westlichen in die ostdeutsche Provinz so kunstvoll und komplex wie kein anderer Autor. Seine literarischen Charaktere bleiben daheim in der ostthüringischen Kleinstadt Altenburg, wo nach der Grenzöffnung die westliche Welt über sie hereinbricht, ihr tägliches Leben vollständig verwandelt und so zu einem tiefgreifenden Fremdheitserlebnis führt.
Komplementär macht Jan Groh die Fremdheit deutlich, indem ein „entfremdeter“ Westdeutscher im Herbst 1989 die „authentische“ Lebenswelt junger DDR-Oppositioneller als unbekanntes Draußen entdeckt. Dadurch entsteht die literarisch gelungenste Schilderung der DDR kurz vor der Maueröffnung, gerade weil sie aus einer uneingeweihten, fremden Perspektive beschrieben wird. Und wo Grohs eigenartiger, eigensinniger, brillanter Bildungs- und Dialogroman zeitlich und räumlich endet, da beginnt Bernd Wagners buntes, gewagtes, spöttisches Gesellschafts- und Geschichtspanorama. Indem er eine närrische Ostdeutsche auf eine skurrile Expedition in den Westen schickt, der nun seinerseits als unbekanntes Draußen erscheint, gelingt Bernd Wagner die überzeugendste Darstellung der Ost-West-Unterschiede.
Gemeinsam ist den beiden außergewöhnlichen Romanen und ihren ungewöhnlichen Protagonistinnen und Protagonisten ihr fremder Blick auf eine ihnen unbekannte gesellschaftliche Umgebung, wodurch der in seine finale Krise geratene SED-Staat ebenso luzide beschrieben wird wie das vereinigte Deutschland im Jahre drei nach dem Mauerfall. Zur ästhetischen Pointe wird damit die Erzählperspektive: In „Colón“ beobachtet der naive »Besserwessi« bizarre ostdeutsche Mentalitätsmuster, welche die an sie gewöhnten DDR-Bürger längst nicht mehr bemerken. In »Paradies« legt die ostdeutsche Simplicissima abseitige westdeutsche Wirklichkeitspartikel bloß, welche gleichermaßen exemplarisch auf deutsch-deutsche Seelenzustände nach der Wiedervereinigung verweisen.
Ingo Schulze ist mit „Simple Storys“ reich und berühmt geworden, vielleicht auch, weil er gängige Erwartungen erfüllt hat. „Paradies“ des immer schon völlig unterschätzten und jenseits des Mainstreams schreibenden Bernd Wagner ist nur noch antiquarisch erhältlich. Und das Schicksal von Jan Grohs Roman „Colón“ macht geradezu fassungslos: 2001 erschien er zuerst als Book on Demand. 2010 dann eine Neuauflage unter dem abwegigen Titel „Ostbrot. Eine Irrfahrt im Wendeherbst“. Seit der Verlag 2016 seinen Betrieb einstellte, ist dieser bedeutende Roman gar nicht mehr erhältlich. Es gilt, diese beiden literarischen Juwele dem Lesepublikum wieder zugänglich zu machen. In sorgfältig lektorierten Neuausgaben. Jeder deutschsprachige Verlag, der sich eine Verantwortung für die deutsche Gegenwartsliteratur zugutehält, ist aufgerufen.
Dieser Text ist zuerst erschienen in Politik & Kultur 04/2020.