Alte Ängste neu aufgelegt

Das Lebensgefühl des alten West-Berlins

Die Stimmung im alten West-Berlin war eine sehr andere als heute. Ich bin dort sieben Jahre nach dem Mauerbau, 1968, geboren, aufgewachsen in Wilmersdorf, Kinderladenkind, meine Eltern waren Teil der sehr lebendigen Kunstszene. Damals habe ich die geopolitische Situation natürlich nicht ganz erfasst. Es herrschte stets ein eigentümliches Nebeneinander von Profan-Provinziellem und Ereignissen, die immer wieder deutlich machten, wie wenig normal unsere Situation eigentlich war. Da sprachen die Eltern beim Frühstück, während mein Bruder und ich uns darüber stritten, wer das neue Nutella-Glas zuerst anbrechen durfte, über einen Mauertoten. Da gab es die Geisterbahnhöfe, die auf mich großen Eindruck machten. Da machte man mit der Schulklasse einen Ausflug in „den“ Osten. Nur wenige Kilometer von zu Hause entfernt, berlinerten die Menschen ähnlich wie wir – es gibt kleine Unterschiede zwischen den West- und Ostberlinern –, aber die Welt sah vollkommen anders aus. Weit entfernte Reiseziele wie Süditalien oder Nordnorwegen schienen beinahe weniger fremd zu sein.

 

Mein Alltag war zwar dominiert von Dingen wie Schule, Freundinnen, Musikhören, Lesen, gelegentlich Zoff mit den Eltern, aber spätestens wenn es in den Urlaub ging, wurde an den Grenzübergängen unsere absurde Situation wieder deutlich. Oft ging es über die Grenzübergangsstelle Dreilinden-Drewitz – wir sagten nur Dreilinden –, also zum Panzer. Dieser stand, wenn man aus Berlin kam, kurz vor dem DDR-Kontrollpunkt, man wurde also von ihm begrüßt. Der Panzer war so aufgestellt, dass sein Geschützrohr auf West-Berlin gerichtet war. Diese Symbolsprache verstand man auch als Kind, die Eltern redeten zudem öfter mit Unbehagen darüber. Waren wir an den Autoschlangen angelangt, begann das übliche Spiel: Jeder meinte, diese oder jene Schlange komme besonders zügig voran. Immer wenn wir gerade die Spur gewechselt hatten, hörte die schnelle Schlange auf, sich zu bewegen, als wäre man für immer erstarrt, in der Zeit, in der Bewegung, in allem. Dann wechselten wir die Schlange, und das Gleiche begann von vorne.

 

Je älter ich wurde, desto weniger beängstigend wirkte der Panzer, der mit dem sich endlos hinziehenden Kalten Krieg doch etwas in die Jahre gekommen zu sein schien. Im Dezember 1990 wurde er von den abziehenden sowjetischen Truppen von seinem Sockel gehoben und mitgenommen. Seit 1992 steht auf dem Sockel auf Initiative des Bildhauers Eckhardt Haisch ein rosafarbener Schneelader, ein Sonderbau auf Basis des sowjetischen Geländewagens GAZ 69.

 

Das besondere Lebensgefühl in West-Berlin, changierend zwischen Polen wie Angst und Anarchie, habe ich versucht, in meinem Roman „Hausers Zimmer“ (2011) sowie in „Mein altes West-Berlin“ (2016) festzuhalten. Gerade die diffuse Angst – vor allem vor einem Atomkrieg – mit uns in Berlin im Epizentrum ist für mich ein nach wie vor gut abrufbares Gefühl aus meiner Jugend: „Wenn es einen Atomkrieg gibt, liegen wir doch hier so richtig schön in der Mitte. Vor meinem inneren Auge sehe ich einen riesigen gelbweißen Atompilz genau hinter der Gedächtniskirche. Dann schmelzen alle Häuser in Sekundenschnelle zusammen, eine Spielzeugstadt, Spielzeugland, Spielzeugwelt. Aus Legosteinen. Nur noch kreisende, kalte Kugeln im All. Arte Povera pur. Umlaufbahnen, Leere, kein Leben. Nur noch Tauben und Ratten bleiben übrig – denke ich mir so. Plötzlich bekomme ich totale Angst“ (aus „Hausers Zimmer“).

 

Besuch bei uns in Berlin kam, wenn nicht mit dem Auto, dann am Bahnhof Zoo an. Der Bahnhof Zoo war eine Institution in West-Berlin. Groß, dunkel und schmuddelig, hatte er eine düster-erhabene Aura. Dass der Zoo eines Tages zum Regionalbahnhof herabgestuft werden würde, lag außerhalb des Vorstellungsvermögens. Viele ältere Menschen empfinden diesen Vorgang heute noch als schwere Kränkung. Früher kamen die Großeltern immer am Bahnhof Zoo an, wenn sie uns besuchten. In Erinnerung geblieben ist aber auch der – einzige – Besuch eines Onkels und einer Tante aus Westdeutschland. Nach wenigen Tagen West-Berlin rief mein Onkel: „Ihr lebt in einer sterbenden Stadt! Nicht mal am Kriegsende kann Berlin trauriger gewesen sein als jetzt!“ Onkel und Tante waren nicht von ihrer Meinung abzubringen, Berlin würde an die Sowjetunion fallen, West-Berlin sei eh ein absurdes Konstrukt, auf die Dauer wäre dieses Überbleibsel zu teuer für den Bund und so weiter. Sie ließen kein gutes Haar an West-Berlin. Es ging weiter um die „albernen Abenteuerkinder“, die sich in Berlin nur selbst verwirklichen würden. Einwände, dass die Amerikaner West-Berlin nicht ohne Weiteres „dem Russen“ überlassen würden und einiges für Berlin – Stichwort Luftbrücke – getan hatten, schlugen sie in den Wind. „Der Russe“ würde sich den Happen West-Berlin vor seiner Nase nicht länger anschauen, nicht weitere 30 Jahre untätig zusehen, irgendwann „zubeißen“ und so weiter. „Der Russe“ sei schwerfällig, träge und geduldig. Er habe ein anderes Zeitmaß als wir. Wenn er West-Berlin angreifen oder einfach nur die Grenzen abriegeln würde, dann würden wir alle in die Röhre gucken. „Wegen euch“ würden die Amis bestimmt keine Bodentruppen schicken. Und wenn es einen Atomkrieg gäbe, wovon über kurz oder lang auszugehen sei, so die selbstgewisse Tante, würden wir erst recht in einer sterbenden Stadt leben! Aber einen Dritten Weltkrieg würde für uns Berliner sowieso niemand riskieren.

 

Die Verwandten brausten wieder vom Bahnhof Zoo ab in ihr langweiliges Leverkusen. Wir blieben mit ihren düsteren Worten zurück. Die Eltern aber versuchten uns Kindern die Sorgen zu vertreiben: „Das ist doch keine sterbende Stadt, sondern die lebendigste Stadt Deutschlands!“, sagte der Vater. Wenn wir mal wieder am Bahnhof Zoo waren, dem alten schmuddeligen Ding, dann meinte ich zu spüren, dass der Vater recht hatte: Selbst von den Nutten, den Säufern und den ewigen An-die-Wand-Pinklern am stinkenden Zoo ging etwas aus, das einen nicht wirklich glauben ließ, diese Stadt würde einfach so sterben. Berlin fühlte sich irgendwie immer gut an, auch wenn es nicht schön aussah – gerade an seinen hässlichen Ecken, von denen es ja viele gab und gibt.

 

Die Berliner Lässigkeit, das Widerspenstige und die Anarchie, auf der anderen Seite des Spektrums rangierend jedoch auch ein unguter Schlendrian und Mief, schienen damals noch ausgeprägter als heute. Das Leistungsträgerzeitalter hatte noch nicht begonnen. Begriffe wie Selbstoptimierung kannte man noch nicht. Man fürchtete sich vor dem Dritten Weltkrieg – nicht vor dem Burn-out. So konnte man mitten in Berlin, der Stadt, die im Epizentrum der bipolaren Weltordnung lag, ziemlich realitätsvergessen lesen und lümmeln, Gitarre oder Maultrommel spielen und sich, während man „Revolution“ von den Beatles hörte, die Fingernägel hingebungsvoll in Rot und Schwarz lackieren.

 

Dass ich in Berlin – nach der Wende – noch einmal eine solch rapide Veränderung des Alltags wie derzeit erleben würde, hätte ich nicht erwartet. Nun erinnert mich manches an Ängsten vor ungreifbaren Dingen durchaus ein wenig an die Zeit des Kalten Kriegs – obwohl dieser Vergleich natürlich mehr als hinkt. Die derzeitige Situation in Berlin mit geschlossenen Schulen, Geschäften und vielen anderen Anordnungen löst durchaus alte Ängste wieder aus.

 

Dieser Text ist zuerst erschienen in Politik & Kultur 04/2020.

Tanja Dückers & Ludwig Greven
Tanja Dückers ist Schriftstellerin und Journalistin. Ludwig Greven ist freier Publizist.
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