Arne Born - 30. März 2020 Kulturrat_Logo_72dpi-01

Ost-West-Perspektiven

Die Literatur weiß es besser


Innerdeutsche Gemütszustände

In der gesellschaftlichen Realität gestaltet sich das Zusammenwachsen dessen, was zusammengehören soll, langwieriger und komplizierter als zunächst angenommen. 30 Jahre nach Mauerfall und Wiedervereinigung ist das augenfälliger denn je. Unterschiedliche Lebensverhältnisse, Mentalitätsmuster, Wahlergebnisse, Konsumgewohnheiten prägen auch 2020 den ostwestdeutschen Alltag. Die Hoffnungen auf die Herstellung einer „inneren Einheit“ in Deutschland scheinen der Skepsis gewichen, wonach sich eine strukturelle Fremdheit zwischen dem östlichen und dem westlichen Landesteil verfestigt. Diese Fremdheit zwischen Ost und West wurde aber bereits in den 1990er Jahren von der „schönen Literatur“ beschreibend vorweggenommen und auch reflektierend überwunden.

 

Die sozialpsychologische Ursache der innerdeutschen Fremdheit lässt sich als Kombination zweier Faktoren beschreiben: Zum einen wird die gegenseitige Ähnlichkeitserwartung der Ost- und Westdeutschen kollektiv enttäuscht. Zum anderen sind die Ostdeutschen aufgrund der ungleich verteilten Definitionsmacht in der neuen Bundesrepublik tendenziell als „Fremde“ und „Laien“ gegenüber den Westdeutschen als „Einheimische“ und „Experten“ benachteiligt.

 

Hellsichtig wird das Gefühl der Benachteiligung und Übervorteilung von nahezu allen Autorinnen und Autoren der kritisch-loyalen DDR-Literatur formuliert. Ostdeutschland und sich selbst als Verlierer betrachtend, beschreiben die Reformsozialisten den Transformationsprozess als kapitalistischen Eroberungsfeldzug: Elf Tage nach der Grenzöffnung schreibt Christoph Hein verzweifelt an den Rowohlt-Verlag: „Wenn wir scheitern, frißt uns McDonald.“ Im Dezember 1989 bescheinigt Stefan Heym seinen Mitbürgerinnen und Mitbürgern in der DDR wütend, dass sie von „westlichen Krämern“ hinters Licht geführt worden seien: „eine Horde von Wütigen, die Rücken an Bauch gedrängt, Hertie und Bilka zustrebten auf der Jagd nach dem glitzernden Tinnef“. Volker Braun bezeichnet Transformation und Wiedervereinigung Anfang 1991 in einem Interview desillusioniert als „Einmarsch des Kapitalismus in eine herrenlose Gegend“. Im September 1991 erscheinen Christa Wolf die westdeutschen Eindringlinge als die „neuen Weltherren“, die „die Rechtsmaßstäbe der Sieger“ anlegen, um ihr „Bedürfnis nach Rache und nach Selbstbeweihräucherung“ zu befriedigen.

 

Auf ganz andere Art beschreiben aus der DDR ausgereiste Autoren die Fremdheit zwischen Ost und West. Wo die Reformsozialisten die DDR-Bürger dafür kritisieren, dass sie 1989/90 kein erneutes sozialistisches Experiment mittragen, da gießen die in den Westen ausgereisten Autoren Kübel voll Hohn und Spott über die verschreckten und desorientierten Ostdeutschen aus, deren Klagen in Richtung Westen sie als angemaßte Opferrolle, als ungerechtfertigtes Selbstmitleid und als billige Larmoyanz interpretieren. Monika Maron: „Die neue ostdeutsche Einheitsfront, die von der PDS bis zu den Neonazis reicht, verrührt die DDR-Geschichte zu einem einzigen Opferbrei, die eigene Vergangenheit wird unter dem neuen Feindbild begraben, ein neues Wir ist geboren, ‚wir aus dem Osten‘; endlich dürfen alle Opfer sein, Opfer des Westens.“ Auch Bernd Wagner und Wolf Biermann übertragen ihre radikale Kritik am ostdeutschen Realsozialismus nach dem Ende der DDR auf die „gelernten Untertanen“ (Biermann), ihr Zorn auf die DDR mutiert zum Abscheu gegen die ehemaligen DDR-Bürger: „Dummheit, Korrumpierbarkeit in jeder Richtung, Faulheit, Feigheit nach oben und Brutalität nach unten“ (Wagner). Die „kranken Ostdeutschen“ erscheinen als „Volk wie ein Haufen verhaltensgestörter Heimkinder, die sich wundern, daß es plötzlich keine geladenen Stacheldrahtzäune mehr gibt, aber auch nicht den täglichen Schweinefraß aus der Großküche“ (Biermann).

 

Während somit die allermeisten Autorinnen und Autoren in der ersten Phase der Wendeliteratur, der Politisierung, die gegenseitigen Fremdheitsmuster nicht nur konstatieren, sondern auch praktizieren, gehen der Ostdeutsche Günter de Bruyn und der Westdeutsche Peter Schneider einen anderen Weg: Sie reflektieren die gegenseitigen Stereotype, um zu einer innerdeutschen Annäherung und Verständigung zu gelangen. Bereits 1990/91 beschreiben sie „wechselseitige Projektionen“ (Schneider) und „Vorstellungsschablonen“ (de Bruyn), die bis heute aktuell geblieben sind. Mit wenigen ausdrucksstarken Strichen gelingt es den beiden Autoren, das jeweilige Bild nachzuzeichnen, das sich Ost- und Westdeutsche voneinander machen. So redet das „DDR-Klischee eines Westbürgers“ „laut und sehr ungezwungen“, „spricht, wenn er nicht von Italien- und Spanienreisen erzählt, von Leistung und Geld“ und kehrt dabei immer „für seinen Gesprächspartner, ob er will oder nicht, den Überlegenen heraus“ (de Bruyn).

 

Die Kulturtechniken des „Besserwessis“ sind in einer gesellschaftlichen Umgebung entstanden, die den Ostdeutschen nach erstem Augenschein als wenig erstrebenswert bis verwerflich erscheint: „Sie stören sich an der Kälte der Konkurrenzgesellschaft, an der Glitzerfassade, hinter der nichts steckt, an der allgemeinen Rücksichtslosigkeit und am Materialismus.“ Dieses östliche Stereotyp von der Bundesrepublik besagt weiterhin, dass „es im Westen ‚kalt‘ sei, keine ‚echte Freundschaft‘ gebe, keine ‚Gemütlichkeit'“. Dem steht das westliche Klischee des selbstmitleidigen „Jammerossis“ gegenüber, dessen „Anspruchsverhalten“ noch durch die begleitende „Vorwurfshaltung“ verschlimmert werde (Schneider).

 

Neben der bereits in den 1990er Jahren antizipierten deutsch-deutschen Fremdheit hat die Wendeliteratur dieses Zeitraums eine außerordentliche Leistung vollbracht, die bis jetzt unbemerkt geblieben ist: Der vom Feuilleton vehement geforderte große Wenderoman wurde bereits in drei Teilen zwischen 1997 und 2001 veröffentlicht. Marcel Reich-Ranicki, der Literaturpapst dieser Zeit, sah den „Faust auf der Straße liegen“ und war daher – wie praktisch die gesamte Literaturkritik – umso enttäuschter, dass die Belletristik ihn nicht aufhebe. Er übersah, dass Ingo Schulzes „Simple Storys“ (1998), Jan Grohs „Colón“ (2001) und Bernd Wagners „Paradies“ (1997) nach Art einer Trilogie als der große Wenderoman gelten können. Diese Hauptwerke des Wendejahrzehnts überzeugen zum einen künstlerisch durch einen modernen Realismus, der sozial engagiert, (auto-)biografisch fundiert und ästhetisch reflektiert ist. Zum anderen gestalten sie exemplarisch die drei wichtigsten Erscheinungsformen der die gesamte Literatur zur deutschen Einheit prägenden Fremdheit zwischen Ost und West.

 

Ingo Schulze zeigt die innerdeutsche Fremdheit als Einbruch des unbekannten Westlichen in die ostdeutsche Provinz so kunstvoll und komplex wie kein anderer Autor. Seine literarischen Charaktere bleiben daheim in der ost­thüringischen Kleinstadt Altenburg, wo nach der Grenzöffnung die westliche Welt über sie hereinbricht, ihr tägliches Leben vollständig verwandelt und so zu einem tiefgreifenden Fremdheitserlebnis führt.

 

Komplementär macht Jan Groh die Fremdheit deutlich, indem ein „entfremdeter“ Westdeutscher im Herbst 1989 die „authentische“ Lebenswelt junger DDR-Oppositioneller als unbekanntes Draußen entdeckt. Dadurch entsteht die literarisch gelungenste Schilderung der DDR kurz vor der Maueröffnung, gerade weil sie aus einer uneingeweihten, fremden Perspektive beschrieben wird. Und wo Grohs eigenartiger, eigensinniger, brillanter Bildungs- und Dialogroman zeitlich und räumlich endet, da beginnt Bernd Wagners buntes, gewagtes, spöttisches Gesellschafts- und Geschichtspanorama. Indem er eine närrische Ostdeutsche auf eine skurrile Expedition in den Westen schickt, der nun seinerseits als unbekanntes Draußen erscheint, gelingt Bernd Wagner die überzeugendste Darstellung der Ost-West-Unterschiede.

 

Gemeinsam ist den beiden außergewöhnlichen Romanen und ihren ungewöhnlichen Protagonistinnen und Protagonisten ihr fremder Blick auf eine ihnen unbekannte gesellschaftliche Umgebung, wodurch der in seine finale Krise geratene SED-Staat ebenso luzide beschrieben wird wie das vereinigte Deutschland im Jahre drei nach dem Mauerfall. Zur ästhetischen Pointe wird damit die Erzählperspektive: In „Colón“ beobachtet der naive »Besserwessi« bizarre ostdeutsche Mentalitätsmuster, welche die an sie gewöhnten DDR-Bürger längst nicht mehr bemerken. In »Paradies« legt die ostdeutsche Simplicissima abseitige westdeutsche Wirklichkeitspartikel bloß, welche gleichermaßen exemplarisch auf deutsch-deutsche Seelenzustände nach der Wiedervereinigung verweisen.

 

Ingo Schulze ist mit „Simple Storys“ reich und berühmt geworden, vielleicht auch, weil er gängige Erwartungen erfüllt hat. „Paradies“ des immer schon völlig unterschätzten und jenseits des Mainstreams schreibenden Bernd Wagner ist nur noch antiquarisch erhältlich. Und das Schicksal von Jan Grohs Roman „Colón“ macht geradezu fassungslos: 2001 erschien er zuerst als Book on Demand. 2010 dann eine Neuauflage unter dem abwegigen Titel „Ostbrot. Eine Irrfahrt im Wendeherbst“. Seit der Verlag 2016 seinen Betrieb einstellte, ist dieser bedeutende Roman gar nicht mehr erhältlich. Es gilt, diese beiden literarischen Juwele dem Lesepublikum wieder zugänglich zu machen. In sorgfältig lektorierten Neuausgaben. Jeder deutschsprachige Verlag, der sich eine Verantwortung für die deutsche Gegenwartsliteratur zugutehält, ist aufgerufen.

 

Dieser Text ist zuerst erschienen in Politik & Kultur 04/2020.


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