„Der Eichsfelder in mir hat geholfen“

Martin Kohlstedt über musikalischen Diskurs und ostdeutsche Mentalität

Du bist mit dieser, unserer Generation vertrauten, ostdeutschen Leistungsmentalität aufgewachsen. Inwieweit prägt sie noch heute deine musikalische Arbeit?
Glücklicherweise ist die musikalische Arbeit komplett beschützt vor diesem verbissenen, zwanghaften, kontrollsüchtigen zweiten Über-Ich, was das Label steuert, die Zahlen im Griff hat, die Dinge überschaut, die Crew auswählt. Ich habe diese zwei Personen. Die eine kann das im Interview toll ausdrücken, die andere kann auf der Bühne keinen geraden Satz sprechen.

 

Der Eichsfelder in mir hat geholfen, anzubeißen, stressresistent zu werden, Druck zu verstehen oder jahrelang an einer Sache dranzubleiben. Heute stelle ich bei anderen Musikern fest: Okay, ihr habt euch gar keinen Plan gemacht.

 

Das heißt nicht, dass das eine ganz unromantische Gegenrolle zum Musiker ist. Nein, es ist einer, der aufpasst. Es ist fast was Väterliches, aber auf eine harte Art und Weise, eine ganz militärische Disziplin.

 

Wir sitzen heute in Weimar. Zum Studium sind wir beide hierhergezogen. Du bist geblieben. Mittlerweile bist du aber international sehr erfolgreich. Du hast in Istanbul, in Teheran, in Moskau etc. gespielt. Wieso noch Weimar?
Es gibt einen sehr einfachen Grund: Wenn man die Hälfte des Jahres international in Großstädten, im Trubel, in der Präsenz ist, dann gibt es nur wenige Orte, die mich in so kurzer Zeit wieder auf den Nullpunkt bringen wie Weimar. Weimar hat die Macht, die absolute Ruhe auszustrahlen und gleichzeitig ein Ort des Diskurses zu bleiben. Es ist nicht die absolut piefige Leere, sondern es gibt diese versteckten Gänge unter der Oberfläche. Hier hat Kunst eine andere Reifezeit. Ich habe nicht das Gefühl, unter einer Berliner Ellenbogenkonkurrenz was veräußern zu müssen. Hier kann man altromantisch Musik entstehen lassen. Es gibt auch kein richtiges Lokalheldentum. Man kennt sich in der Stadt. Ich bin nun mal Dorfkind. Außerdem ist Weimar ein idealer Tourstartpunkt, man kommt in jede Richtung Deutschlands in vier Stunden.

 

Früher warst du viel in und um den Erfurter Zughafen bei Bandprojekten wie Ryo oder Marbert Rocel aktiv. Inwieweit gibt es da eine Verbundenheit zur thüringischen bzw. ostdeutschen Musikszene in dir?
Es gibt tatsächlich einen gewissen Habitus. Mein Label ist ein Kollektiv. Das ist ein bestes ostdeutsches Beispiel: Alles ist auf Augenhöhe, es gibt keine echten Hierarchien, jeder sagt, was er denkt. Es ist keine Gefälligkeitshierarchie – und der Umgang miteinander ist auch nicht vom Geld bestimmt. Es ist ein Familiengefühl, es kostet emotionale Bindung.
Ich weiß nicht, ob es eine ländliche, ostdeutsche oder konservative Manier ist. Es ist das Zuverlässigkeitsprinzip, was ich sehr brauche. Vielleicht ist es ein erhöhter Sicherheitsbedarf des Ostdeutschen, der dazu führt, dass alles mehr auf Vertrauen beruhen muss – als auf einer Unterschrift. Ich habe mit fast niemandem einen Vertrag. Und dann kommt Corona und alles ist Mist. Da habe ich angefangen, Pakete für Mitarbeiter zu schnüren. Man sorgt sich umeinander. Dafür gibt es keine Unterschriften. Alles ist sehr transparent, alle haben Einblick in die Finanzen.

 

Ich bin vielleicht der Grund für das alles, aber ich werde nie der Chef der Unternehmung sein. Der Grundgedanke des Kollektivs ist für mich das Wichtigste. So ist auch der Erfurter Zughafen entstanden. So bringt z. B. Clueso Menschen und Proberäume zusammen. Es ist der alte Open-Source-Gedanke. Dafür stehe ich komplett ein. Nicht alles muss
immer Konzept sein. Es gibt eine innere Revolte gegen dieses komische Anheben von Menschen – und gegen Ungleichwertigkeit. Das wird nicht passieren, sondern die Elbphilharmonie wird zum Wohnzimmer.
Da sitzt die ganze Familie und der Junge da vorne hat sich gefälligst in seinen Grundgedanken nicht verändert.

 

Zuletzt war ich im Dezember vergangenen Jahres beim „Ströme“-Konzert im Berliner Konzerthaus. Bei diesem Projekt hast du mit dem 70-köpfigen Gewandhauschor Leipzig gemeinsam auf der Bühne improvisiert. Wie geht das überhaupt?
Der Gewandhauschor funktioniert ähnlich wie meine Philosophie: Es ist eine Semiprofessionalität aus dem Leben heraus. Die Menschen haben alle Berufe. Sie sind Arzt, Anwalt, Krankenschwester – sie kommen aus allen Teilen der Bevölkerung und musizieren gemeinsam auf Augenhöhe. Und das wieder unter dem ostdeutschen kollektiven Sinn. Der Leiter des Gewandhauschores leitet mal die Herde, mal ist er auf Augenhöhe mit ihr. Bei Ströme ist meine intuitive improvisierte Sicht auf diese geschlossenen strukturierten klassischen Zusammenhänge getroffen. Das war gewaltig. Die erste Probe habe ich durchgeheult. Es wurde erkannt, was ich da tue – es wurde nicht verlacht. Ich hatte Angst bezüglich der Bewertung der ganzen Sache. Ich baue musikalisch auf recht einfachen Strukturen auf, bevor es komplex wird und ins Unterbewusstsein geht. Das ist sehr basic. Und verlangt noch gar nichts. Da ist keine Virtuosität dabei, nichts. Damit komme ich in so ein Haus und der Gewandhauschor improvisiert auf einem einfachen D-Moll-Akkord – das war irre. Das ist eine Hommage an die Musik. Alle nehmen sich zurück und lassen nur die Musik walten.

 

Vielen Dank.

 

Dieser Text ist zuerst erschienen in Politik & Kultur 10/2020.

Martin Kohlstedt & Theresa Brüheim
Martin Kohlstedt ist Musiker. Theresa Brüheim ist Chefin vom Dienst von Politik & Kultur.
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