Martin Kohlstedt & Theresa Brüheim - 29. September 2020 Kulturrat_Logo_72dpi-01

Ost-West-Perspektiven

„Der Eichsfelder in mir hat geholfen“


Martin Kohlstedt über musikalischen Diskurs und ostdeutsche Mentalität

Sowohl die Musikszene feiert Martin Kohlstedt – er ist in fünf Kategorien für den Opus Klassik, den Nachfolgepreis des Echo, nominiert – als auch Presse und Kritiker loben ihn – er „renoviere die Klassik“, schreibt Die Zeit. Der gebürtige Eichsfelder hat sich das Klavierspielen selbst als Entspannung nach der Schule angeeignet. Später gab er nicht nur während des gemeinsamen Studiums an der Bauhaus-Universität Theresa Brüheim Klavierstunden, sondern begann seine musikalische Laufbahn am Erfurter Zughafen. Über zehn Jahre später kommen beide in Weimar zusammen und sprechen über Kohlstedts Musik, sein eigenes Label, den Diskurs mit sich selbst, thüringische Wurzeln und ostdeutsche Leistungsmentalität.

 

Theresa Brüheim: Martin, du bist Musiker, Pianist und Komponist – aber keines deiner Stücke ist abgeschlossen, stattdessen entwickelst du sie immer weiter und weiter. Welcher Ansatz steht dahinter?
Martin Kohlstedt: Als 12-Jähriger habe ich nach der Schule das Klavier für mich entdeckt. Ich hatte einen sehr meditativen Ansatz. Ich habe nur einzelne Noten aneinandergesetzt – ohne Unterricht, ohne alles. Damals habe ich das allererste Stück begonnen, welches heute 20 Jahre alt ist und noch weiterentwickelt wird. Es ist ein Prozess. Dabei muss ich ins Gespräch mit mir selbst kommen, und das kann unmöglich absolut verlaufen. Ich bin ein 32-jähriger Künstler – ich muss erst mal diese Bezeichnung Künstler für mich ernst nehmen. Ich mag den Zweifel, ich mag das Einbeziehen von Scheitern und ich mag es, meine Stücke jedes Mal von einer neuen Perspektive zu betrachten. Dadurch bleiben Variablen offen – so sollte es mit allen Gesprächsthemen sein, sie sollten dauerhaft flüssig bleiben.

 

Ein Stück wird auch auf jedem Konzert live weiterentwickelt – immer anders. Wie funktioniert das?
Über ein paar Minuten begebe ich mich sehr bewusst in einen Song. Die rechte Gehirnhälfte kontrolliert erst mal komplett. Ich beginne wiederholend auf einem Motiv, bis es ganz langsam unterbewusst wird. Dann kommt allmählich die andere Gehirnhälfte dazu und fängt an, aus der Sicherheit der Wiederholung heraus die Dinge auszuloten, sie zu provozieren. Das kann mit einer geringen Wahrscheinlichkeit komplett vor den Baum gehen. Größtenteils geht es auf eine sehr mäandernde Art und Weise in die nächste Ebene, ich beginne ein neues Gespräch. So, wie ich versuche, jedes Interview neu zu improvisieren – sodass ich nicht die Chance habe, in Floskeln hineinzugeraten; denn diese Art von freiem Reflektieren ist mein Benzin –, so funktioniert es auch live.

 

Es gibt aber auch Stücke, die zehn Jahre fest in ihrer Aussage bleiben. Manchmal ist ein Thema zu Ende gedacht; die erste große Liebe ist irgendwann in einer Schachtel verpackt. Diese Stücke kommen dann nicht mehr so zum Vorschein.

 

Den größten Reiz verspüre ich darin, die Gedanken, die gerade herrschen, umzuformen.

 

Die Musik erscheint auf deinem eigenen Label Edition Kohlstedt. Wie wichtig ist es für dich, ein eigenes Label zu haben? Wieso hast du dich dafür entschieden?
Ein anderes Label sollte nicht für mich Antworten auf meine Fragen finden. Meine Aussagen möchte ich selbst tätigen: Was ist eigentlich authentisch? Und was ist dieses „ehrlich“, was in so vielen PR-Texten missbraucht wird? Ich wollte genau wissen, was ich da tue.

 

Ich bin kein „neoklassischer Pianist“. Ich möchte nicht in den Geniekomplexwahn reingeraten. Redaktionen bezeichnen mich als „neuen Meister“. Es passiert schon so viel von außen. Davor beschützt mich das selbst gegründete Label. Da ist jemand – fast wie das zweite Ich: Das ist der auf dem PR-Foto; das ist ein Typ, der hat das alles im Griff. Den habe ich davor gebaut. Der beschützt dieses Kind, was immer noch als 12-Jähriger am Klavier sitzen möchte, um die Dinge frei walten zu lassen. Das ist eine sehr spannende Entwicklung. Genau in dieser Reibung entsteht das meiste.

 

Du bist Thüringer, du kommst aus dem Eichsfeld, lebst seit über 13 Jahren in Weimar. Inwieweit spielen deine thüringischen Wurzeln eine Rolle für deine Musik?
Die Frage wird mich mein Leben lang beschäftigen. Ich merke, dass ich die größte Masse an Grundkonflikten aus dem Eichsfeld eingesammelt habe. Ich komme aus einer sehr ländlichen Gegend, einer sehr leistungsgeprägten Gegend, einer sehr konservativen Gegend: Vereinskultur, alte preußische Tugenden, Zuverlässigkeit. Und sicherlich ist es nicht die weltoffenste Gegend. Gleichzeitig gibt es dort die offenste Natur. Da ist etwas, was es sonst nicht mehr so oft gibt. Darum liebe ich es.

 

Musiker zu werden ist dort wie Astronaut werden. In mir hat sich ein großer Ball an Diskussionen entwickelt, der dort keinen Platz gefunden hat. Das war eine diskussionsfreie Gegend: Weder die Schulmodelle noch die eigenen hierarchischen Familienmodelle haben die eigene Meinung frei walten lassen.

 

Ich wurde das erste Mal an der Bauhaus-Uni in Weimar nach der eigenen Meinung gefragt. Da ist mein Kopf rot angelaufen.

 

Dieser Waldjunge hatte hinter dem Klavier im Wohnzimmer einen abgeschlossenen Raum. Deshalb sitze ich heute immer noch so krumm am Klavier, ich habe mich immer weit nach vorn gebeugt – in den eigenen Raum hinein, den ich damals für mich brauchte. Außerhalb dieses Raums habe ich nur entsprochen. Das ist der größte Konflikt. Diese Befreiung spielt einfach auch eine große Rolle. Ich war Sportler, Pausenclown, hin und wieder hatte ich die große Klappe. Für jede Gruppe hatte ich eine andere Rolle. Im Studium konnte ich das bequem fortsetzen. Aber ich habe gemerkt, dass ich noch nicht so weit nach innen gegraben habe. Nur am Klavier kam es zu dieser Ehrlichkeit.

 

Vor drei Jahren hast du im großen Saal in der Elbphilharmonie gespielt. Deine ganze Familie ist angereist. Du hast mal gesagt, dass dann auch die Letzten verstanden haben: Du bist Musiker. Was hat das mit dir gemacht? Was haben diese vorausgehenden Zweifel mit dir gemacht?
Ich glaube, es war nicht der Zweifel daran, dass ich Musiker bin – zugetraut hätten die mir alles. Es war einfach das große Sicherheitsbedürfnis dieser Nachkriegs-Eichfelder, die noch in einer streng sozialistischen Erziehung aufgewachsen sind und wollten, dass ich was Vernünftiges mache. Mittlerweile sehe ich diese Sorge als eine ganz schöne Form von Liebe. Es ist ein Sich-um-mich-Scheren in unglaublichster Form. Denn selbst nach dem Auftritt in der Elbphilharmonie kam mein Opa zu mir und sagte: „Das ist alles ganz schön und gut, aber kreativ bleiben, das ist das Schwere.“ Es wird immer mit einem gewissen Zweifel gesehen. Und das ist schön. Genauso funktioniert meine Musik. Dadurch bleibt immer alles flüssig.

 

Das Konzert war ein wahnsinnig wichtiger Tag, ja ein emanzipatorischer Akt. Die ganze Eichsfeld-Ultra-Kurve vor mir: „Ach so, das meint er mit Musiker.“ Er spielt nicht auf Silberhochzeiten für 80 Euro auf die Kralle, sondern es steht eine Notwendigkeit dahinter. Das war für die das erste Mal authentisch. Da habe ich gemerkt, dass sie nicht schuld sind, sondern ich lange nach diesem Weg suchen musste, damit ich auch von der eigenen Familie in meinem Habitus erkannt werde.

Du bist mit dieser, unserer Generation vertrauten, ostdeutschen Leistungsmentalität aufgewachsen. Inwieweit prägt sie noch heute deine musikalische Arbeit?
Glücklicherweise ist die musikalische Arbeit komplett beschützt vor diesem verbissenen, zwanghaften, kontrollsüchtigen zweiten Über-Ich, was das Label steuert, die Zahlen im Griff hat, die Dinge überschaut, die Crew auswählt. Ich habe diese zwei Personen. Die eine kann das im Interview toll ausdrücken, die andere kann auf der Bühne keinen geraden Satz sprechen.

 

Der Eichsfelder in mir hat geholfen, anzubeißen, stressresistent zu werden, Druck zu verstehen oder jahrelang an einer Sache dranzubleiben. Heute stelle ich bei anderen Musikern fest: Okay, ihr habt euch gar keinen Plan gemacht.

 

Das heißt nicht, dass das eine ganz unromantische Gegenrolle zum Musiker ist. Nein, es ist einer, der aufpasst. Es ist fast was Väterliches, aber auf eine harte Art und Weise, eine ganz militärische Disziplin.

 

Wir sitzen heute in Weimar. Zum Studium sind wir beide hierhergezogen. Du bist geblieben. Mittlerweile bist du aber international sehr erfolgreich. Du hast in Istanbul, in Teheran, in Moskau etc. gespielt. Wieso noch Weimar?
Es gibt einen sehr einfachen Grund: Wenn man die Hälfte des Jahres international in Großstädten, im Trubel, in der Präsenz ist, dann gibt es nur wenige Orte, die mich in so kurzer Zeit wieder auf den Nullpunkt bringen wie Weimar. Weimar hat die Macht, die absolute Ruhe auszustrahlen und gleichzeitig ein Ort des Diskurses zu bleiben. Es ist nicht die absolut piefige Leere, sondern es gibt diese versteckten Gänge unter der Oberfläche. Hier hat Kunst eine andere Reifezeit. Ich habe nicht das Gefühl, unter einer Berliner Ellenbogenkonkurrenz was veräußern zu müssen. Hier kann man altromantisch Musik entstehen lassen. Es gibt auch kein richtiges Lokalheldentum. Man kennt sich in der Stadt. Ich bin nun mal Dorfkind. Außerdem ist Weimar ein idealer Tourstartpunkt, man kommt in jede Richtung Deutschlands in vier Stunden.

 

Früher warst du viel in und um den Erfurter Zughafen bei Bandprojekten wie Ryo oder Marbert Rocel aktiv. Inwieweit gibt es da eine Verbundenheit zur thüringischen bzw. ostdeutschen Musikszene in dir?
Es gibt tatsächlich einen gewissen Habitus. Mein Label ist ein Kollektiv. Das ist ein bestes ostdeutsches Beispiel: Alles ist auf Augenhöhe, es gibt keine echten Hierarchien, jeder sagt, was er denkt. Es ist keine Gefälligkeitshierarchie – und der Umgang miteinander ist auch nicht vom Geld bestimmt. Es ist ein Familiengefühl, es kostet emotionale Bindung.
Ich weiß nicht, ob es eine ländliche, ostdeutsche oder konservative Manier ist. Es ist das Zuverlässigkeitsprinzip, was ich sehr brauche. Vielleicht ist es ein erhöhter Sicherheitsbedarf des Ostdeutschen, der dazu führt, dass alles mehr auf Vertrauen beruhen muss – als auf einer Unterschrift. Ich habe mit fast niemandem einen Vertrag. Und dann kommt Corona und alles ist Mist. Da habe ich angefangen, Pakete für Mitarbeiter zu schnüren. Man sorgt sich umeinander. Dafür gibt es keine Unterschriften. Alles ist sehr transparent, alle haben Einblick in die Finanzen.

 

Ich bin vielleicht der Grund für das alles, aber ich werde nie der Chef der Unternehmung sein. Der Grundgedanke des Kollektivs ist für mich das Wichtigste. So ist auch der Erfurter Zughafen entstanden. So bringt z. B. Clueso Menschen und Proberäume zusammen. Es ist der alte Open-Source-Gedanke. Dafür stehe ich komplett ein. Nicht alles muss
immer Konzept sein. Es gibt eine innere Revolte gegen dieses komische Anheben von Menschen – und gegen Ungleichwertigkeit. Das wird nicht passieren, sondern die Elbphilharmonie wird zum Wohnzimmer.
Da sitzt die ganze Familie und der Junge da vorne hat sich gefälligst in seinen Grundgedanken nicht verändert.

 

Zuletzt war ich im Dezember vergangenen Jahres beim „Ströme“-Konzert im Berliner Konzerthaus. Bei diesem Projekt hast du mit dem 70-köpfigen Gewandhauschor Leipzig gemeinsam auf der Bühne improvisiert. Wie geht das überhaupt?
Der Gewandhauschor funktioniert ähnlich wie meine Philosophie: Es ist eine Semiprofessionalität aus dem Leben heraus. Die Menschen haben alle Berufe. Sie sind Arzt, Anwalt, Krankenschwester – sie kommen aus allen Teilen der Bevölkerung und musizieren gemeinsam auf Augenhöhe. Und das wieder unter dem ostdeutschen kollektiven Sinn. Der Leiter des Gewandhauschores leitet mal die Herde, mal ist er auf Augenhöhe mit ihr. Bei Ströme ist meine intuitive improvisierte Sicht auf diese geschlossenen strukturierten klassischen Zusammenhänge getroffen. Das war gewaltig. Die erste Probe habe ich durchgeheult. Es wurde erkannt, was ich da tue – es wurde nicht verlacht. Ich hatte Angst bezüglich der Bewertung der ganzen Sache. Ich baue musikalisch auf recht einfachen Strukturen auf, bevor es komplex wird und ins Unterbewusstsein geht. Das ist sehr basic. Und verlangt noch gar nichts. Da ist keine Virtuosität dabei, nichts. Damit komme ich in so ein Haus und der Gewandhauschor improvisiert auf einem einfachen D-Moll-Akkord – das war irre. Das ist eine Hommage an die Musik. Alle nehmen sich zurück und lassen nur die Musik walten.

 

Vielen Dank.

 

Dieser Text ist zuerst erschienen in Politik & Kultur 10/2020.


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