Bühne frei

Die Entwicklung der gesamtdeutschen Theaterlandschaft nach dem Mauerfall

Eine dieser Sonderaktivitäten war das sogenannte “Weimarer Modell”, verbunden mit einem spektakulären – später rückgängig gemachten – Austritt des dortigen Nationaltheaters aus dem Deutschen Bühnenverein. Mit ihm wurde eine von der Politik gewünschte Fusion dieser Bühne mit dem Theater Erfurt verhindert. Nun reisten Kulturpolitiker aus anderen Teilen Deutschlands nach Weimar, um zu schauen, ob es für das Organisieren von Theater irgendwie einen alternativen Weg gebe. Was sie mitnahmen, war die Erkenntnis, dass Einsparungen sich insbesondere durch einen Gehaltsverzicht der Mitarbeiter erzielen ließen. Entsprechende Haustarifverträge hatte der Bühnenverein mit den Gewerkschaften zwar schon zuvor für die eine oder andere Bühne abgeschlossen, aber meist unter dem Siegel der Verschwiegenheit. Es war auch seine erklärte Politik, soziale Einschnitte im Kulturbereich möglichst zu vermeiden. Aber durch das “Weimarer Modell” war der Haustarifvertrag hoffähig geworden. Zuweilen entstand der Eindruck, die Kommunen der neuen Länder lieferten sich eine Art Wettbewerb des Gehaltsverzichts. Bis heute sind in zahlreichen Theatern der neuen Länder solche Haustarifverträge in Kraft, wenn auch in der Anzahl mit fallender Tendenz.

 

Eine Frage wird man stellen müssen: Wieso haben sich die Gewerkschaften überhaupt auf die Haustarifverträge eingelassen. Die Antwort liegt auf der Hand. Man versuchte damit, einen weitreichenden Arbeitsplatzabbau zu verhindern. Teilweise ist das gelungen, teilweise aber auch nicht. Denn immerhin haben die Stadt- und Staatstheater in der Zeit seit der Wiedervereinigung in Ost und West bis zu 7.000 von zuvor 45.000 Arbeitsplätzen verloren. Das wären sicher deutlich mehr gewesen, wenn es in den neuen Ländern die Haustarifverträge mit Gehaltsverzicht nicht gegeben hätte. In den alten Ländern, wo vielfach auch die öffentlichen Zuschüsse eingefroren oder gar gekürzt wurden, gab es im Übrigen solche Verträge so gut wie gar nicht. Gespart wurde aber trotzdem, sei es durch den schon erwähnten Personalabbau, sei es durch das Vereinbaren von niedrigeren Gagen mit den Darstellern. Die schwarze Null lässt grüßen.

 

Zu den regionalen Sonderaktivitäten gehörte auch das sächsische Kulturraumgesetz. Mit ihm wurde eine spezielle kommunale Kulturfinanzierung unter Einsatz von Landesmitteln ins Leben gerufen. Vielen galt das als ein neuer Weg. Doch kein anderes Bundesland war bereit, einen solchen Weg einzuschlagen. Die Gründe dafür sind vielseitig. Das im Gesetz festgelegte Verfahren der Mittelverteilung wurde als zu kompliziert angesehen. Außerdem bevorzugten die Länder die direkte Mitfinanzierung kommunaler Kultureinrichtungen, umso stärker auf die Gestaltung der kommunalen Kulturpolitik Einfluss nehmen zu können. Der wichtigste Grund lag aber in der Einführung der Kultur als Pflichtaufgabe der Kommunen. Das stieß bundesweit im kommunalen Bereich auf deutliche Ablehnung. In Sachsen selbst wurde von kommunaler Seite sogar, allerdings erfolglos, gegen das Kulturraumgesetz gerichtlich zu Felde gezogen.

 

Und das Publikum? Es tat erst einmal das, was für die Theater und Orchester am wichtigsten war, es blieb ihnen treu. Noch immer waren die Theater und Konzertsäle überall im Lande gut gefüllt. Dennoch muss man einräumen, es sind weniger Zuschauer geworden. Rund drei Millionen sind den öffentlich getragenen Betrieben etwa in den letzten 20 Jahren abhandengekommen. Und wer sich die jährliche Theaterstatistik des Deutschen Bühnenvereins genau ansieht, wird feststellen, für diese geringere Zahl von Zuschauern wird immer mehr produziert.

 

Mit all diesen Feststellungen ist das Dilemma, was sich Mitte der 2010er Jahre abzeichnete, weitgehend beschrieben: Künstlerinnen und Künstler, die weniger verdienten, mussten wegen der knappen Personaldecke bei gleichzeitiger Erhöhung der Produktionszahlen immer mehr arbeiten. Das konnte auf Dauer nicht gut gehen. Als sich dann noch in der Arbeitswelt ein Wertewandel im Sinne der Work-Life-Balance einstellte, konnte es niemanden überraschen, dass sich mit Initiativen wie “art but fair” und “Ensemble-Netzwerk” Widerstand regte. Das wiederum brachte die Künstlergewerkschaften unter einen erheblichen Druck, der im Sommer 2019 dazu führte, dass sie sich mit dem Bühnenverein auf eine wesentliche Änderung des einschlägigen Tarifvertrags, des Normalvertrags Bühne, zugunsten der Arbeitnehmer verständigten. Zum ersten Mal nach Jahrzehnten wurden beispielsweise den Schauspielern eineinhalb freie Tage pro Woche tarifvertraglich garantiert, eine Änderung, die in den 1990er Jahren noch einen Aufstand der Intendanten hervorgerufen hätte. So ändern sich die Zeiten.

 

Nun führt Corona das Regiment, für die Theater und Orchester eine große Herausforderung. Niemand weiß zurzeit so richtig, wie es weitergehen soll. Mit all den Hygiene-Auflagen lässt sich weder auf Dauer gut Theater spielen, schon erst recht keine Oper mit großen Kollektiven wie Chor und Orchester, noch das Publikum erreichen. Umso wichtiger ist es, dass es in den schwierigen Jahren nach der Wiedervereinigung gelungen ist, deutschlandweit den Ensemble- und Repertoirebetrieb mit heute wieder rund 40.000 angestellten – künstlerischen und anderen – Mitarbeitern zu erhalten. Sie werden jetzt alle weiterbezahlt, obwohl der Betrieb stillsteht, teilweise natürlich auch über Kurzarbeitergeld. Immerhin! Doch die Not der Tausenden kurzfristig Beschäftigten der Theater, vor allem auch der Privattheater, lindert das nicht, zumal viele von ihnen keine Soloselbständigen sind. An diesen kurzfristig Beschäftigten gehen deshalb die bisherigen Hilfsprogramme von Bund und Ländern weitgehend vorbei. Da ist noch einiges zu tun.

 

Umso fragwürdiger sind deshalb die immer wieder aufflackernden Debatten, das Theater mehr in Richtung Projektveranstaltung und weg vom Ensemble- und Repertoirebetrieb zu entwickeln. Im Sinne der Mitarbeiter ist das nicht. Im Sinne der Kunst auch nicht. Wohl aber im Sinne der Finanzen. Die wirtschaftliche Not, die bei der öffentlichen Hand Corona bedingt eintreten wird, kann diese Debatten wieder beflügeln. Schon sprechen einige davon, die Krise sei eine Chance. Da ist Wachsamkeit geboten.

 

Dieser Text ist zuerst erschienen in Politik & Kultur 06/2020.

Rolf Bolwin
Rolf Bolwin war von 1992 bis 2016 Geschäftsführender Direktor des Deutschen Bühnenvereins. Er arbeitet nun als Rechtsanwalt und betreibt in Bonn Stadtpunkt.Kultur – Büro für Kultur und die Künste.
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