Ein wirklicher gesellschaftlicher Wandel setzte erst mit den politisch-kulturellen Veränderungen der 1960er und 1970er Jahre ein. Ein von vielen Sinti und Roma in Deutschland aufmerksam wahrgenommener Moment war dann die Rede von Bundespräsident Richard von Weizsäcker zum 40. Jahrestag des Endes des Zweiten Weltkrieges im Januar 1985. Erstmals sagte hier ein Bundespräsident deutlich, was der 8. Mai für uns alle bedeutet: „Der 8. Mai war ein Tag der Befreiung. Er hat uns alle befreit von dem menschenverachtenden System der nationalsozialistischen Gewaltherrschaft.“ Heute gibt es das Denkmal für die im Nationalsozialismus ermordeten Sinti und Roma Europas, das in Berlin direkt neben dem Deutschen Bundestag steht, und wo wir der ermordeten Sinti und Roma gedenken. Heute steht dieser Ort als ein Teil unserer Identität, als Ort der Erinnerung und als Ort, der zeigt, dass die Bundesrepublik Deutschland diese Geschichte als gemeinsame Geschichte begreift.
Auf der politischen Ebene gibt es generell eine positive Entwicklung. Aktuell beruft die Bundesregierung einen Unabhängigen Expertenausschuss Antiziganismus, der gleichermaßen Analysen wie Handlungsempfehlungen erstellen soll. Die Kulturstiftung des Bundes hat mit dem Projekt RomArchive ermöglicht, die vielfältigen Beiträge von Sinti und Roma zur deutschen und zur europäischen Kultur zu dokumentieren und im Internet zu präsentieren; am 24. Januar 2019 wurde die Webseite des RomArchive freigeschaltet.
Sinti und Roma sind nationale Minderheiten in ihren jeweiligen Heimatländern, und zwischen kultureller und nationaler Identität darf kein Gegensatz gemacht werden. Europa muss mehr sein als jene „substanzielle Leere“, wie der Soziologe Ulrich Beck es charakterisiert hat. Europa braucht wieder eine Vision, die nicht auf der Technokratie einer ökonomischen Globalisierung aufbaut, sondern die uns eint auf der Basis unserer vielfältigen Identitäten. Wir sind gemeinsam gefordert, „Europa“ und „Heimat“ in unsere Identität aufzunehmen und neu zu denken. Gerade als Minderheit müssen wir aber über den Status als Minderheit immer auch hinausgehen. Wir wollen und müssen an unserer Gesellschaft aktiv teilnehmen. Diese gleichberechtigte Teilhabe muss immer wieder eingefordert werden, aber sie ist Voraussetzung für unseren Zusammenhalt in einer offenen Gesellschaft.
Dieser Text ist zuerst erschienen in Politik & Kultur 01-02/2019.