Mit der Heimat wird man nicht fertig

Das Heimatverständnis deutscher Minderheiten im östlichen Europa

Wie viel Heimat braucht der Mensch? So lautete der Titel eines studentischen Essaywettbewerbs, der 2013 von der Deutschen Gesellschaft e. V. ausgeschrieben worden war. 150 Studierende aus Deutschland, Russland, der Ukraine, Kasachstan und Usbekistan setzten sich darin mit dem Heimatverständnis und der Identität der Russlanddeutschen auseinander; die 30 besten Essays wurden 2014 veröffentlicht. Entstanden ist eine denkbar breite Palette an Annäherungsversuchen, in denen nicht nur nach dem „wie viel“, sondern auch nach dem „wo“ und „wieso“ gefragt wurde. „Ich trage mit mir und in mir die Sprache meiner Vorfahren. Ich habe nichts anderes vorzuweisen. Dokumente kann man fälschen. Namen kann man sich erheiraten. Meine Sprache, die ersten Worte, die ich in meinem Leben gehört und gesprochen habe, in ihnen finde ich meine Heimat“, betont die den plattdeutschen Dialekt der Mennoniten sprechende Elina Penner in ihrem Essay. Als die ersten Deutschen vor 250 Jahren von Zarin Katharina der Großen als Kolonisten geworben wurden, zählten die Freiheit der Person, des Glaubens und der Sprachwahl zu den wichtigsten Rechten der Siedler. 175 Jahre später – nach dem Überfall Deutschlands auf die Sowjetunion – wurde zunächst etwa eine Million Russlanddeutsche, wie sie inzwischen hießen, nach Sibirien und Zentralasien deportiert. Eine Rückkehr in ihre alten Heimatorte und der Gebrauch ihrer Muttersprache wurde ihnen zwei Generationen lang verwehrt. Unter diesen prekären Umständen fiel die Idealisierung des Herkunftslandes Deutschland noch intensiver als bei anderen deutschen Minderheiten im „Ostblock“ aus.

 

Seit den 1980er Jahren verließen über zwei Millionen deutsche Aussiedler das Gebiet der ehemaligen Sowjetunion. „Jahrzehnte sind vergangen. Nur noch wenige Russlanddeutsche wagen den Schritt nach Deutschland“, stellt Margret Dick in ihrem Essay fest. „Mittlerweile hat sich herumgesprochen, dass in der alten Heimat nicht die Erfüllung aller Träume und die Glückseligkeit warten. (…) Hier wird einem nichts geschenkt, auch nicht die Heimat.“ Viele in Russland verbliebene Deutsche sind nicht nach Deutschland ausgewandert, weil sie Russland als ihre Heimat betrachten. Dabei betonen sie aber, dass sie „Russlanddeutsche“, keine „Russen“ seien. „Ich würde jedem Einzelnen (in Deutschland) die ganze Geschichte der Russlanddeutschen erzählen (…) um zu erklären, weshalb jede Reise nach Deutschland für mich eine Rückkehr zum Ursprung bedeutet und jede Fahrt nach Russland eine Rückkehr in die Heimat ist“, unterstreicht in ihrem Essay Anna German aus dem russischen Tscheljabinsk. Rund 400.000 bis 500.000 bekennen sich als Angehörige der deutschen Minderheiten in der Russischen Föderation, 182.000 in Kasachstan und 33.000 in der Ukraine. Rund 25.000 Deutsche verteilen sich auf Belarus, die Republik Moldau, Georgien, Armenien, Aserbaidschan, Kirgisistan, Tadschikistan, Turkmenistan und Usbekistan.

Eine knappe halbe Million Deutsche lebt in Ostmittel- und Südosteuropa, in Ländern, die fast alle der Europäischen Union angehören. Die größten deutschen Minderheiten sind in Polen mit 148.000 bis 300.000, in Ungarn mit 132.000 bis 164.000 und in Rumänien mit 36.900 Personen zu Hause. Etwa 40.000 Deutsche verteilen sich auf Estland, Lettland, Litauen, Tschechien, die Slowakei, Slowenien, Kroatien, Bosnien und Herzegowina sowie Serbien. Die über 800-jährige Geschichte der Deutschen im östlichen Europa endete zu einem großen Teil mit Hitlers Angriffs- und Vernichtungskrieg. Von den mehr als 18 Millionen Deutschen, die vor 1939 östlich von Oder und Neiße gelebt hatten, starben nach 1944 rund zwei Millionen infolge von Flucht, Vertreibung und Deportation. Etwa 12 Millionen erreichten bis 1950 das Gebiet der Bundesrepublik Deutschland und der DDR sowie etwa 400.000 Österreich. Um das Jahr 1950 lebten vor allem im polnischen Oberschlesien, der slowakischen Zips, Ungarn, Rumänien und in den asiatischen Teilen der Sowjetunion noch über vier Millionen Deutsche, die aufgrund ihrer Diskriminierung als Angehörige einer deutschen Minderheit fast alle bis zur Jahrtausendwende als (Spät-)Aussiedler nach Deutschland ausgereist sind. Fragt man die vor Ort verbliebenen Deutschen nach den größten Herausforderungen, denen sich ihre Gruppe stellen müsse, werden Sprachverlust und Vereinsamung genannt. Ersteres ist eine Folge des strengen Verbots in den meisten Staaten des östlichen Europas, sich der deutschen Muttersprache zu bedienen, letzteres ein Resultat der Massenauswanderung und des hohen Altersdurchschnitts der deutschen Minderheiten. Auch Generationenkonflikte, die sich aus unterschiedlichen Einstellungen gegenüber einer möglichen Ausreise nach Deutschland, der Pflege des Brauchtums oder der Mehrheitsgesellschaft ergeben, belasten oft die deutschen Minderheiten. Dennoch konnten sich insbesondere die deutschen Gruppen in Polen, Ungarn und Rumänien konsolidieren, deren Gemeinschaftsleben inzwischen weitgehend von einer jüngeren Generation getragen wird.

Gerald Volkmer
Gerald Volkmer ist stellvertretender Direktor des Bundesinstituts für Kultur und Geschichte der Deutschen im östlichen Europa an der Universität Oldenburg.
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