Die Stunde des Europäischen Parlaments

CETA, Kultur und das EU-Demokratiedefizit

Zählen kann das Europäische Parlament indes auf die Unterstützung der nicht allein in vielen Mitgliedstaaten, sondern auch auf EU-Ebene in den letzten Jahren deutlich stärker gewordenen Zivilgesellschaft. Hier ist mehr Kooperation möglich und sinnvoll.
Wie schon erwähnt braucht die ausführliche und transparente Behandlung von CETA im Europäischen Parlament schon wegen des großen Umfangs auch Zeit. Deshalb darf die vorläufige Anwendung von CETA, wenn überhaupt, erst für einen Zeitpunkt nach der Entscheidung des Europäischen Parlaments beschlossen werden. Bekanntlich gibt Artikel 218 Absatz 5 AEUV der EU die Kompetenz, mit Drittstaaten die vorläufige Anwendung eines völkerrechtlichen Vertrages zu vereinbaren, also von einem gemäß Artikel 25 der Wiener Vertragsrechtskonvention (WVK) zulässigen Instrument Gebrauch zu machen, welches das rasche Wirksamwerden eines Vertrags herbeiführt.
Die vorläufige Anwendung setzt rechtlich nicht voraus, dass das Europäische Parlament bereits entschieden hat. Demokratisch ist das nicht. Um das abzumildern, gibt es eine Vereinbarung zwischen EU-Kommission und -Parlament, die Entscheidung des Europäischen Parlaments abzuwarten. Bei CETA ist das besonders wichtig, weil gerade hier so viele Fragen ungeklärt sind, die auch die Partizipationsrechte der Mitgliedstaaten berühren.

 

Die vorläufige Anwendung von CETA bewirkt die sofortige völkerrechtliche Bindung der EU gegenüber Kanada. EU–intern hat CETA als Teil des Unionsrechts unmittelbar Vorrang vor entgegenstehendem Recht der Mitgliedstaaten. Das bleibt so, bis die Vertragspartner gegenseitig die Ratifikation oder deren Ablehnung notifizieren.
Ist CETA ein reines EU-Abkommen, dann steht diese Notifizierung allein der EU zu. Bei einem gemischten Vertrag allerdings führt die Verweigerung der Ratifizierung eines Mitgliedstaates zum Scheitern von CETA insgesamt. In früheren vergleichbaren Fällen hat die EU-Kommission allerdings in Nachverhandlungen einen Vertragstext ausgehandelt, den auch der verweigernde Staat akzeptierte, was dann letztendlich doch zu einem Inkrafttreten führte. Bis zum Ende der Ratifizierungen, einschließlich Nachverhandlungen, bleibt die vorläufige Anwendung allerdings wirksam.
Für CETA bedeutet das noch mehr Unsicherheit: Zwar unterliegt die vorläufige Anwendung EU-intern der geltenden Kompetenzverteilung, die der EU gebietet, gemäß Artikel 4 Absatz 2 AEUV die „nationale Identität“, also die Grundprinzipien der Staatsorganisation und die Grundwerte des jeweiligen Staates, zu wahren und nicht in diese einzugreifen. Was danach vorläufig angewendet werden kann, ist heute nicht exakt abzusehen. Es hängt davon ab, ob die EU, mit Rückendeckung des EuGH, CETA doch als rein europäisches Abkommen behandeln darf. Wenn das so ist, umgreift die vorläufige Anwendung den vollständigen CETA-Text. Ob das so ist, hängt einerseits von der Entscheidung des EuGH zum EU-Singapur-Abkommen ab, die für das Jahr 2017 angekündigt ist. Auch dann jedoch ist Klarheit nicht zwingend, denn das EU-Singapur-Abkommen weist zwar Ähnlichkeiten mit CETA auf, ist aber nicht identisch. Gegebenenfalls werden weitere Verfahren vor dem EuGH folgen müssen.

 

Der Vorschlag der EU-Kommission vom 5. Juli 2016 an den EU-Rat führt neben Kanada und der EU auch die Mitgliedstaaten als Vertragspartner auf; sie können darauf drängen, dass die vorläufige Anwendung lediglich die „reinen“ EU-Zuständigkeiten von CETA einbezieht. Es ist jedoch bis heute umstritten, welche Teile von CETA das genau betreffen kann und ob eine „Zerlegung“ von CETA in dieser Weise überhaupt möglich und zulässig ist.

 

Das Europäische Parlament muss jetzt handeln und die politische Initiative ergreifen. Dieser Schritt ist wichtig für CETA, zur Korrektur des Demokratiedefizits in Europa und um das Vertrauen der Bürger in das Hoffnungsprojekt Europa wiederzugewinnen.
Viele reden ganz selbstverständlich von Demokratie, vergessen dabei jedoch zu erwähnen, warum sie politisch geboten ist: Nur ein selbstbewusstes Parlament kann durch transparentes, der Bürgerschaft verpflichtetes Verfahren sicherstellen, dass die Auswirkungen neuer Regelungen auf die Lebensbedingungen von Bürgern und auf das Gemeinwohl umfassend zur Kenntnis genommen, in diesem Licht geprüft und nach Maßgabe der Grundentscheidungen unserer Verfassung bewertet werden. Bürokratien und Wirtschaftsexperten vertreten ihre Partialinteressen; die haben zu viel Einfluss, in der EU und auch bei CETA. Genau das kritisieren die Bürgerinnen und Bürger an der Politik der EU. Das Europäische Parlament kann das ändern.

Herta Däubler-Gmelin
Herta Däubler-Gmelin ist Bundesministerin der Justiz a. D., sie arbeitet heute überwiegend als Rechtsanwältin und Tarifschlichterin.
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