Nach dem Brexit, in dessen Folge der riesige Vertrauensschwund vieler Bürger in die Europäische Union (EU) deutlich wurde, herrscht weitgehend Ratlosigkeit. Weder die EU-Kommission, noch wichtige nationale Regierungen sind bereit, die einseitig neoliberale Politik und das demokratische Defizit der EU zu ändern. Fehleranalyse findet ernsthaft kaum statt; manche aus dem Kreis der politischen Eliten weisen sogar der Zivilgesellschaft mit ihrer Forderung nach mehr partizipativer Demokratie, Kontrolle und Einfluss Schuld zu. In der EU-Kommission ist ebenso wie in der deutschen Regierung „business as usual“ angesagt.
Man fühlt sich an die Regierungserklärung von Bundeskanzlerin Merkel vom September 2010 erinnert, in der sie ihr Leitbild einer »marktkonformen Demokratie« in der Zeit von Europäisierung und Globalisierung verkündete. Der Markt, sprich die maßgeblichen Unternehmen der Wirtschaft, sind die bestimmenden Faktoren. Das Parlament, bisher mit umfassender Kontroll-, Gestaltungs- und Entscheidungs-kompetenz ausgestattet, wird auf „Mitbestimmung“ reduziert und hat dem Markt zu folgen. Dafür sorgt die Regierung.
Diese Vision widerspricht dem Grundgesetz und ist politisch höchst gefährlich, weil sie die Institutionen der Demokratie, also Wahlrecht und Parlamente, aber auch Demonstrationsrecht, Bürgerinitiativen und Volksbegehren formal unverändert bestehen lässt, ihre Kompetenzen und ihren Einfluss jedoch aushöhlt. Das geschieht über den von Wirtschaftsexperten beeinflussten Apparat nationaler Regierungen; auf EU-Ebene über die Kommissionsbürokratie und die Entscheidungsmacht des EU-Rates. CETA oder TTIP sollen Privatisierung und Deregulierung marktkonform völkerrechtlich festschreiben und damit Änderungswünschen von Parlamenten oder zivilgesellschaftlichen Initiativen entziehen.
Wer so handelt, braucht sich über die EU-weit zunehmende Distanz, ja Wut der Bürger auf Politik nicht zu wundern. Das sind keine guten Aussichten für die Zukunft. Änderungen sind dringend nötig, um das Hoffnungsprojekt EU nicht scheitern zu lassen. Völlig unberührt davon will die EU-Kommission jedoch das CETA-Freihandelsabkommen mit Kanada im Herbst unverändert durchziehen. Sie musste aufgrund des öffentlichen Aufschreis nur den Plan zurücknehmen, den EU-Mitgliedstaaten keinerlei Ratifikationszuständigkeit zuzugestehen, weil CETA ein ausschließlicher EU-Vertrag sei. Am 5. Juli 2016 hat sie dem EU-Rat vorgeschlagen, CETA bei Aufrechterhaltung ihrer Rechtsmeinung als gemischtes Abkommen mit der Folge der Ratifizierungskompetenz der EU-Mitgliedstaaten zu behandeln. Jedenfalls bis der Europäische Gerichtshof (EuGH) im ähnlich gelagerten Fall des EU-Singapur-Abkommens seine gutachtliche Äußerung abgegeben habe.
Wenn nicht die angerufenen Gerichte ihn daran hindern, und die Klagen werden schon eingereicht, soll der EU-Rat am 18. Oktober 2016 grünes Licht für die Unterzeichnung von CETA und die vorläufige Anwendung gemäß Artikel 218 Absatz 5 AEUV geben.
Kulturschaffende in Deutschland und anderen EU-Ländern haben in zahlreichen Stellungnahmen, Expertisen und Demonstrationen auf die Defizite, Unklarheiten und Unsicherheiten der CETA–Formulierungen zum Kulturbereich hingewiesen. Die Beschwörungen aus dem Bundeswirtschaftsministerium, aber auch die beschönigenden Worte im erwähnten Kommissionsvorschlag an den EU-Rat können das nicht ausräumen; die Bedeutung der CETA-Eingangserwägungen wie auch die Klauseln, unter anderem der Artikel 7.7., 8.9. und 28.9., müssen weiter erörtert und dann klargestellt werden.
Genau das ist jetzt die Aufgabe des Europäischen Parlaments. Es kann diese und die vielen anderen Kritikpunkte aufgreifen und klären; allerdings nur, wenn es jetzt schnell und energisch die Zukunft von CETA selbst in die Hand nimmt. Die EU-Abgeordneten müssen die Behandlung von CETA zeitnah auf die Tagesordnung setzen und von Anfang an klarstellen, dass sich das EU-Parlament nicht auf die pauschale Ja/Nein-Abstimmungsprozedur für völkerrechtliche Verträge, auch nicht mit begleitenden Vertragsinterpretationen einlässt. Die ist weder rechtlich geboten, noch bei umfassenden Abkommen wie CETA ausreichend. Vielmehr müssen in breit angelegten öffentlichen Anhörungen alle Probleme zur Sprache kommen, die von der europäischen Zivilgesellschaft immer wieder vorgetragen wurden, ohne bei der EU-Kommission oder den nationalen Bürokratien Gehör zu finden – auch die des Kulturbereichs. Dabei müssen vordringlich auch Vertreter der Zivilgesellschaft zu Wort kommen, weil sie von der Kommission bisher kaum beachtet wurden.
Wenn das Europäische Parlament diese Aufgabe ernst nimmt und ergebnisoffen berät, was zweifellos auch zur Zurückverweisung von CETA an die EU-Kommission und damit zur Nachverhandlung führen kann, wird es seinem Anspruch auf eine stärkere Bedeutung gerecht. Das wird von Parlamentspräsident Martin Schulz nachdrücklich betont: Es ist richtig und wichtig und könnte, bei Berücksichtigung der Interessen aller Bürger, mithelfen, den Vertrauensschwund in die EU zu stoppen und mit der Zeit in Vertrauenszuwachs umzuwandeln. Für diesen Schritt braucht das Europäische Parlament Zeit und Mut. Mut, weil abzusehen ist, dass EU-Kommission und -Rat diese Aktivitäten mit äußerster Skepsis verfolgen werden; die Verfechter von Bürokratie und marktfreundlicher Politik werden auch von einflussreichen Medien unterstützt, die gern die Ideologie verbreiten, Entscheidungen der Wirtschaft seien klüger als die von Parlamenten und Zivilgesellschaft.