Geschlechtergerechtigkeit in Berufsorchestern

Zwei Studien und eine noch lange gemeinsame Wegstrecke

 

Einen dritten Untersuchungsgegenstand bildeten die Solistinnen, die mit den Orchestern auftraten. Ihr Anteil lag über alle Instrumentengruppen verteilt bei 39,3 Prozent. Und nur im Fach Gesang gab es ein leichtes Übergewicht zugunsten von Solistinnen von 3 Prozent. Erstaunlich ist, dass selbst bei vermeintlich weiblichen Instrumenten, wie der Geige, Flöte oder Harfe, die männlichen Solisten in der Überzahl waren. Insbesondere bei den Harfenisten ist diese Tatsache kaum nachvollziehbar. Denn legt man beide Studien übereinander, so beträgt der Anteil an Harfenistinnen in den Orchestern 93 Prozent, und dennoch waren 10 von 17 Solokonzerten mit diesem Instrument von einem Harfenisten besetzt.

 

Die große Disparität in allen Untersuchungsfeldern überraschte selbst die Studienautorin. Beunruhigt auf die Zahlen blickt sie vor allem deshalb, weil es bei den untersuchten Positionen wie Leitung, Solo-Parts und aufgeführten Kompositionen nicht nur um die ungleiche Sichtbarkeit von Männern und Frauen geht, sondern automatisch um größere Verdienstmöglichkeiten, also trotz festen Tarifen ein strukturelles Gender Pay Gap indiziert sei.

 

Zum Abschluss ihrer Studie erwähnt die Autorin internationale Beispiele aktiver Unterstützung weiblicher Talente durch namhafte Orchester. Auch bezüglich der Programmgestaltung gibt es internationale Vorbilder. Laut dem Institute for Composer Diversity, so Panlasigui, bestand das Programm für die Saison 2019/2020 in den USA beispielsweise zu immerhin 8 Prozent aus Werken von Komponistinnen. „Zwar ist dieser Anteil immer noch peinlich niedrig, aber ich bin zuversichtlich, dass die neuesten Entwicklungen in den USA dazu führen werden, dass ein vielfältigeres und inklusiveres Repertoire präsentiert wird.“

 

Besonders entmutigend empfindet die Autorin die Diskrepanz zwischen professionellen Dirigentinnen, die von Berufsorchestern engagiert werden, und der studentischen Belegschaft: Immerhin ist die Zunahme des Frauenanteils bei den Studierenden 1,6-mal größer als bei den Gastdirigentinnen. „Es zeigt, dass Frauen ein steigendes Interesse daran haben, Dirigentin zu werden, es aber Hindernisse gibt, die oberen Stufen des Berufs zu erreichen.“

 

Charlotte von Seither, vielfach ausgezeichnete Komponistin, Vorständin des Deutschen Komponistenverbands und Mitglied im Präsidium des Deutschen Musikrats, begrüßt beide wissenschaftlichen Projekte. Sie empfindet Hoffnung und Herausforderung gleichermaßen in Bezug auf die Geschlechtergerechtigkeit in der Musik: „Mittlerweile erlebe ich als Komponistin eine ganze Reihe von aufgeschlossenen Dirigenten, Intendanten, Musikvermittlern und Dramaturgen, die aktiv mitwirken am Aufbruch der Frauen. Dafür brauchen wir gerade jetzt die so wichtigen Archive, Bibliotheken, Studien und Institutionen, die diesem Interessentenkreis die Werke von Frauen zugänglich machen. Daneben müssen wir weiterhin harte Aufklärungsarbeit leisten für all jene, die noch immer in den alten Strukturen feststecken – da ist auch weiterhin sehr, sehr viel zu tun: Die Sichtbarkeit von Frauen darf nicht als bloße ›Gender-Deko‹ rangieren, sie muss eingreifen in das System und dieses auch verändern.“

 

Die Zeichen stehen positiv, dass die beiden Studien einen weiteren Schritt in Richtung mehr Geschlechtergerechtigkeit auslösen. Susann Eichstädt, stellvertretende Generalsekretärin des Deutschen Musikrates, will den Dialog mit den Mitgliedsverbänden zu diesem „gesamtgesellschaftlich bedeutsamen Themenkreis“ intensivieren, dem „zwischen Erkenntnis, Bewusstsein und Handeln gilt es auch im Musikbereich noch eine gehörige Strecke zurückzulegen“. Deshalb freut sich Susann Eichstädt auch „über weitere Aktivitäten zur Thematik wie die Studie unseres Mitgliedsverbandes Internationaler Arbeitskreis Frau und Musik. Ergänzende Bewusstseinsbildung und öffentliche Aufmerksamkeit können der Erreichung des gemeinsamen Ziels nur nutzen“. Dieses Ziehen an einem Strang erhofft sich ebenso Mary Ellen Kitchens, Vorständin Archiv Frau und Musik, die Melissa Panlasigui als Mentorin bei ihrer Studie betreute.

 

Dieser Text ist zuerst erschienen in Politik & Kultur 4/2021.

Cornelie Kunkat
Cornelie Kunkat ist Referentin für Frauen in Kultur und Medien beim Deutschen Kulturrat.
Vorheriger ArtikelZur Hälfte Jubel, zur Hälfte Kritik