„Man geht nicht zum Vergnügen ins Exil“

Aufgaben und Auftrag der Exilforschung heute

 

In der Exilforschung geht es um die Rekonstruktion einzelner Lebensgeschichten, die Untersuchung von Kollektivbiografien und zugleich auch um die Aufarbeitung und Auseinandersetzung der mit diesen Menschen vergessenen oder verdrängten Ideen und Werke, mit ihren wissenschaftlichen Ansätzen und kulturellen Leistungen sowie mit den von ihnen begründeten Schulen und Institutionen. Exilforschung ist Erinnerungsarbeit und will dazu beitragen, dass die Verfolgung und Vertreibung während der NS-Zeit nicht in Vergessenheit gerät und die „Frage nach den Ursachen und Bedingungen, die Auschwitz möglich gemacht hatten“, einbezogen wird, wie Ernst Loewy es gefordert hat.

 

Dieser Aufgabe kommt die 1984 in Marburg gegründete Gesellschaft für Exilforschung e.V. nach. Sie war zunächst der deutsche Zweig der „Society for Exile Studies“, wurde dann eine autonome und als gemeinnützig anerkannte Organisation, die weiterhin mit der „North American Society for Exile Studies“ in Kooperation verbunden ist. Auf ihrer Webseite heißt es: „Die Gesellschaft für Exilforschung e.V. (GfE) versteht sich als Plattform zur Koordination, Vernetzung und Sichtbarmachung einer interdisziplinären Erforschung des deutschsprachigen Exils seit 1933 und seiner Folgen bis in die Gegenwart. Sie widmet sich auch der Frage, inwiefern aktuelle Phänomene von Flucht, Vertreibung und Exil im Kontext dieses historischen Wissens und seiner gesellschaftlichen, politischen und kulturellen Implikationen beschrieben und verstanden werden können. (…) Indem gerade auch kulturwissenschaftlichen Perspektiven der Exil- und Migrationsforschung Raum gegeben wird, werden Fragen nach Heimat und Zugehörigkeit, Identität und Mobilität, Sprachwechsel und Mehrsprachigkeit, (Auto-)Biografie und gebrochenen Narrativen, diasporischen, vernetzten und transnationalen Gemeinschaften in einer Weise verhandelt, die Übertragungen und Vergleiche über die spezifische historische Situation hinaus anregen.“

 

Innerhalb der Gesellschaft für Exilforschung e.V. entstand zudem Ende der 1980er Jahre die Arbeitsgemeinschaft „Frauen im Exil“, deren besonderes Erkenntnisinteresse der Auseinandersetzung mit marginalisierten, überdeckten oder vergessenen weiblichen Lebens- und Arbeitszusammenhängen gilt und die durch die Berücksichtigung der Genderperspektive zu einer geschlechtergerechten Erinnerungskultur beiträgt. Mittlerweile liegen 36 Jahrbücher Exilforschung und zahlreiche Sammelbände vor, darunter auch elf Bände der Reihe „Frauen und Exil“, die die Auseinandersetzung mit diesem Themenkomplex dokumentieren.

 

Ein Kennzeichen der Exilforschung ist es bisher gewesen, dass das Engagement von Einzelnen, und zwar von Betroffenen und Forschenden, tragend wurde, wenn es um die Rekonstruktion zerstörter Lebenswelten, die kritische Rezeption verdrängter und vergessener Traditionen und die Frage des Kultur- und Wissenstransfers in die Exilländer und auch um Remigration ging. Angesichts der Vielzahl der vorliegenden Einzeluntersuchungen und neuen Erkenntnisse wäre es jetzt an der Zeit, die Handbücher und Datenbanken kritisch zu würdigen und zu aktualisieren. Außerordentlich hilfreich wäre es, erneut Sonderforschungsprogramme aufzulegen und die Exilforschung stärker zu institutionalisieren, denn bislang gibt es lediglich die Walter-A.-Berendsohn-Forschungsstelle für deutschsprachige Exilliteratur an der Universität Hamburg und die Axel Springer-Stiftungsprofessur für deutsch-jüdische Literatur- und Kulturgeschichte, Exil und Migration an der Viadrina in Frankfurt/Oder.

 

Die ungeheure Tatsache, dass laut UNO-Flüchtlingshilfe im letzten Jahr 68,8 Millionen Menschen weltweit auf der Flucht vor Krieg, Hunger, Genozid, sozialer Not, Klimawandel, Wirtschaftskrisen, Fundamentalismus und Frauenfeindlichkeit waren, spricht dafür, die Exilforschung zu erweitern und die in der Untersuchung des historischen Exils und der NS-Geschichte erworbenen Expertisen zu nutzen. Es geht um Aufklärung und um Sensibilisierung für die heutige Praxis des politischen und humanitären Asyls, um ein besseres Verständnis der mit den aktuellen Prozessen von Migration, Integration und Akkulturation einhergehenden sozialen, kulturellen und politischen Problemen, denn das Exil wird zu einer sich zunehmend ausbreitenden Erfahrungs- und Lebensform.

 

Dieser Text ist zuerst erschienen in Politik & Kultur 06/2019.

Inge Hansen-Schaberg
Inge Hansen-Schaberg ist Vorsitzende der Gesellschaft für Exilforschung e.V.
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