„Man geht nicht zum Vergnügen ins Exil“

Aufgaben und Auftrag der Exilforschung heute

Der berühmte Schriftsteller, Journalist und Theaterkritiker Alfred Kerr konnte am 15. Februar 1933 rechtzeitig aus Berlin nach Prag flüchten. Ihm war telefonisch von der Polizei geraten worden, „sofort über die Grenze zu gehen“, wie er später in seinem in England geführten Tagebuch notiert, denn als erklärter Hitlergegner war er in Lebensgefahr. In seinem Aufsatz „Empfindsame Flucht. Die ersten Worte nach dem Weggang aus Deutschland“ schrieb er am 1. Juli 1933: „Man geht nicht zum Vergnügen ins Exil.“ Der dann folgende soziale Absturz ist in der Biografie über Alfred Kerr von Deborah Vietor-Engländer nachlesbar. Zwar war die Familie wieder vereint, nachdem Julia Kerr und die Kinder Michael und Judith ihm in die Schweiz „nachgereist“ waren, aber aus einem gut situierten Leben plötzlich herausgerissen, ausgebürgert und völlig mittellos. Judith Kerr zeichnet dies in ihrem 1971 erschienenen Buch „Als Hitler das rosa Kaninchen stahl“ aus der Perspektive des Kindes eindringlich nach.

 

Die Flucht aus dem deutschsprachigen Raum, also aus dem Deutschen Reich, aus Österreich nach dem „Anschluss“ und aus der Tschechoslowakei nach der Annexion des Sudetenlandes, gelang ca. 500.000 Personen, die in Opposition zum NS-Staat standen und/oder als jüdische Menschen versuchten, der Verfolgung zu entgehen. Diese erzwungene Migration unterscheidet sich also fundamental von individuellen Ortswechseln ins Ausland aus wirtschaftlichen, beruflichen oder familiären Erwägungen.

 

Die Strategie des NS-Staates bestand bis 1941 darin, mit allen Mittel der Gewalt und des Terrors die Auswanderung der jüdischen Bevölkerung zu forcieren. Mit der Vertreibung ging die Ausplünderung einher, denn nach Zahlung der „Reichsfluchtsteuer“ und der Konfiszierung des Eigentums durften lediglich 10 Reichsmark ausgeführt werden. Am 23. Oktober 1941 trat das Auswanderungsverbot in Kraft. Die auf der Wannsee-Konferenz am 20. Januar 1942 koordinierte Deportation und Ermordung der Juden Europas hatte zu dem Zeitpunkt bereits begonnen. Die Exilierten fanden ab 1933 meist in den europäischen Nachbarländern Zuflucht, aber auch Palästina, die USA und Argentinien waren gefragte Ziele. Mit den wachsenden Flüchtlingszahlen schlossen sich allerdings immer mehr Grenzen, und Einwanderungsquoten und komplizierte Verfahren für die Aus- und Einreise und Transitbestimmungen machten eine Emigration oft unmöglich. Auf der Konferenz von Évian im Juli 1938 zeigte sich die sehr begrenzte Aufnahmebereitschaft der teilnehmenden 32 Staaten; man einigte sich lediglich auf die Gründung des „Intergovernmental Committee on Refugees“, das die Modalitäten der deutschen jüdischen Auswanderung regeln sollte. Erst nach dem Novemberpogrom 1938 wurde die Dringlichkeit erkannt, rasch zu handeln. Hervorzuheben sind die „Kindertransporte“ nach Großbritannien, die ca. 10.000 Kinder retteten, deren Familien in den meisten Fällen den Holocaust nicht überlebten.

 

Tragischerweise wurden mit Kriegsbeginn zum einen viele der deutschen und österreichischen Flüchtlinge in Frankreich und Großbritannien als „feindliche Ausländer“ in Lagern interniert. Zum anderen waren die Exilierten nach der Okkupation der Niederlande, Belgiens, Luxemburgs und Frankreichs erneut gefährdet, ca. 30.000 wurden während der deutschen Besatzung in die Vernichtungslager deportiert. Frankreich wurde im Sommer 1940 durch die mit der Vichy-Regierung im Artikel 19 des Waffenstillstandsabkommens vereinbarte „Auslieferung auf Verlangen“ faktisch zur Falle. Nur durch Fluchthilfe bei der Überquerung der Pyrenäen und insbesondere mit den von Varian Fry und Gilberto Bosques ausgestellten Visa konnten schätzungsweise 100.000 die Fluchtroute über Spanien nach Lissabon nutzen, um nach Nord-, Mittel- oder Südamerika zu gelangen. Zu einem der letzten Zufluchtsorte für europäische Juden entwickelte sich außerdem Shanghai, wo bis 1941 kein Visum für die Einreise erforderlich war. Zahlreiche autobiografische Texte legen ein Zeugnis über die ungeheuerlichen Verbrechen gegen die Menschlichkeit ab und über die besonderen Umstände, unter denen das Leben gerettet und mit den Traumata umgegangen werden konnte.

 

Bei der Betrachtung des Exils müssen auf der einen Seite das Elend, die Armut und Sorge um das tägliche Leben gesehen werden, auf der anderen Seite sind aber auch die vielfältigen Versuche der Selbstbehauptung durch politische, soziale, journalistische, schriftstellerische, wissenschaftliche, künstlerische oder pädagogische Betätigung zu konstatieren und zu würdigen. Das wird in hervorragender Weise in der Dauerausstellung „Exil. Erfahrung und Zeugnis“ vom Deutschen Exilarchiv 1933-1945 der Deutschen Nationalbibliothek in Frankfurt am Main und im Netzwerkprojekt „Künste im Exil“ unter www.kuenste-im-exil.de vermittelt.

 

 

In der Exilforschung geht es um die Rekonstruktion einzelner Lebensgeschichten, die Untersuchung von Kollektivbiografien und zugleich auch um die Aufarbeitung und Auseinandersetzung der mit diesen Menschen vergessenen oder verdrängten Ideen und Werke, mit ihren wissenschaftlichen Ansätzen und kulturellen Leistungen sowie mit den von ihnen begründeten Schulen und Institutionen. Exilforschung ist Erinnerungsarbeit und will dazu beitragen, dass die Verfolgung und Vertreibung während der NS-Zeit nicht in Vergessenheit gerät und die „Frage nach den Ursachen und Bedingungen, die Auschwitz möglich gemacht hatten“, einbezogen wird, wie Ernst Loewy es gefordert hat.

 

Dieser Aufgabe kommt die 1984 in Marburg gegründete Gesellschaft für Exilforschung e.V. nach. Sie war zunächst der deutsche Zweig der „Society for Exile Studies“, wurde dann eine autonome und als gemeinnützig anerkannte Organisation, die weiterhin mit der „North American Society for Exile Studies“ in Kooperation verbunden ist. Auf ihrer Webseite heißt es: „Die Gesellschaft für Exilforschung e.V. (GfE) versteht sich als Plattform zur Koordination, Vernetzung und Sichtbarmachung einer interdisziplinären Erforschung des deutschsprachigen Exils seit 1933 und seiner Folgen bis in die Gegenwart. Sie widmet sich auch der Frage, inwiefern aktuelle Phänomene von Flucht, Vertreibung und Exil im Kontext dieses historischen Wissens und seiner gesellschaftlichen, politischen und kulturellen Implikationen beschrieben und verstanden werden können. (…) Indem gerade auch kulturwissenschaftlichen Perspektiven der Exil- und Migrationsforschung Raum gegeben wird, werden Fragen nach Heimat und Zugehörigkeit, Identität und Mobilität, Sprachwechsel und Mehrsprachigkeit, (Auto-)Biografie und gebrochenen Narrativen, diasporischen, vernetzten und transnationalen Gemeinschaften in einer Weise verhandelt, die Übertragungen und Vergleiche über die spezifische historische Situation hinaus anregen.“

 

Innerhalb der Gesellschaft für Exilforschung e.V. entstand zudem Ende der 1980er Jahre die Arbeitsgemeinschaft „Frauen im Exil“, deren besonderes Erkenntnisinteresse der Auseinandersetzung mit marginalisierten, überdeckten oder vergessenen weiblichen Lebens- und Arbeitszusammenhängen gilt und die durch die Berücksichtigung der Genderperspektive zu einer geschlechtergerechten Erinnerungskultur beiträgt. Mittlerweile liegen 36 Jahrbücher Exilforschung und zahlreiche Sammelbände vor, darunter auch elf Bände der Reihe „Frauen und Exil“, die die Auseinandersetzung mit diesem Themenkomplex dokumentieren.

 

Ein Kennzeichen der Exilforschung ist es bisher gewesen, dass das Engagement von Einzelnen, und zwar von Betroffenen und Forschenden, tragend wurde, wenn es um die Rekonstruktion zerstörter Lebenswelten, die kritische Rezeption verdrängter und vergessener Traditionen und die Frage des Kultur- und Wissenstransfers in die Exilländer und auch um Remigration ging. Angesichts der Vielzahl der vorliegenden Einzeluntersuchungen und neuen Erkenntnisse wäre es jetzt an der Zeit, die Handbücher und Datenbanken kritisch zu würdigen und zu aktualisieren. Außerordentlich hilfreich wäre es, erneut Sonderforschungsprogramme aufzulegen und die Exilforschung stärker zu institutionalisieren, denn bislang gibt es lediglich die Walter-A.-Berendsohn-Forschungsstelle für deutschsprachige Exilliteratur an der Universität Hamburg und die Axel Springer-Stiftungsprofessur für deutsch-jüdische Literatur- und Kulturgeschichte, Exil und Migration an der Viadrina in Frankfurt/Oder.

 

Die ungeheure Tatsache, dass laut UNO-Flüchtlingshilfe im letzten Jahr 68,8 Millionen Menschen weltweit auf der Flucht vor Krieg, Hunger, Genozid, sozialer Not, Klimawandel, Wirtschaftskrisen, Fundamentalismus und Frauenfeindlichkeit waren, spricht dafür, die Exilforschung zu erweitern und die in der Untersuchung des historischen Exils und der NS-Geschichte erworbenen Expertisen zu nutzen. Es geht um Aufklärung und um Sensibilisierung für die heutige Praxis des politischen und humanitären Asyls, um ein besseres Verständnis der mit den aktuellen Prozessen von Migration, Integration und Akkulturation einhergehenden sozialen, kulturellen und politischen Problemen, denn das Exil wird zu einer sich zunehmend ausbreitenden Erfahrungs- und Lebensform.

 

Dieser Text ist zuerst erschienen in Politik & Kultur 06/2019.

Inge Hansen-Schaberg
Inge Hansen-Schaberg ist Vorsitzende der Gesellschaft für Exilforschung e.V.
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