Die Ursprünge der jüdisch-israelischen Kultur gehen zurück auf die Begegnung zwischen Juden und Arabern. In der Frühphase des zionistischen Projekts trafen europäisch-jüdische Einwanderer, nahöstlich-jüdische Einwanderer und palästinensische Araber im Land Palästina/Israel aufeinander. Selten war dieser enge Kontakt konfliktfrei, aber letztlich blieb keine der beiden Gruppen von dieser Begegnung unberührt: Ähnlich wie in den Einwanderergesellschaften der Karibik bildete sich auf beiden Seiten eine neue, hybride Kultur heraus – jüdisch-israelische Kultur wäre undenkbar ohne die intensive Auseinandersetzung mit der arabischen Sprache oder der arabischen Küche; die arabisch-palästinensische Nationalbewegung wiederum übernahm ihre Kernmotive – Indigenität, Diaspora-Mobilisierung und Befreiung in den Staat – unmittelbar von der zionistischen Bewegung.
Dieser enge Bezug zwischen jüdisch-israelischer und palästinensisch-arabischer Kultur wird bis heute überlagert durch die gegenseitige Flucht und Vertreibung im ersten arabisch-israelischen Krieg (1948), als Hunderttausende Palästinenser aus dem Staat Israel vertrieben wurden – und Hunderttausende nahöstlicher Juden aus den Staaten des Nahen Ostens. Unter dem Eindruck des arabisch-israelischen Konflikts wurde die arabisch-palästinensische Minderheit im Staat Israel über viele Jahrzehnte an die Peripherie der nationalen Kulturindustrie gedrängt – und auch viele nahöstliche Juden waren bemüht, ihre sprachlichen und kulturellen Bezüge zur arabischen Welt abzulegen. Aber wie gestaltet sich heute der Einfluss der nichtjüdischen Minderheiten auf die israelische Kultur – nicht zuletzt angesichts einer langsamen Normalisierung der arabisch-israelischen Beziehungen?
In Israel können unterschiedliche Minderheiten beschrieben werden, die sich von der jüdischen Mehrheitsbevölkerung unterscheiden. Einige davon sind nur temporär im Land, etwa als Flüchtlinge, Gastarbeiter oder zur Betreuung der heiligen Stätten – darunter die Bahá’í und das religiöse Personal vieler christlicher Konfessionen. Die größte Gruppe der nichtjüdischen israelischen Bevölkerung ist dagegen arabischsprachig, mehrheitlich muslimisch – mit einer christlichen und einer drusischen Minderheit – und versteht sich teilweise als arabische Israelis und teilweise als israelische Palästinenser. Gerade die israelische Filmindustrie hat sich in den letzten Jahrzehnten vermehrt der Situation dieser arabischen Minderheit im jüdischen Nationalstaat zugewandt: Die Fernsehserie „Muna“, produziert von der arabisch-israelischen Schauspielerin und Sängerin Mira Awad, oder der Film „In Between“, produziert von Maysaloun Hamoud, zeigen etwa am Beispiel von arabischen Frauen, wie das Leben zwischen jüdisch-israelischer und arabisch-palästinensischer Kultur seine ganz eigenen Herausforderungen haben kann, nicht zuletzt im Bereich der Geschlechterbeziehungen. Israelische Palästinenserinnen und Palästinenser sind zudem seit langer Zeit fester Bestandteil der hebräischen Literaturszene, auch wenn ihr vielleicht prominentester Vertreter, Sayed Kashua, Autor von „Tanzende Araber“, nach dem Gazakrieg 2014 in die USA auswanderte.
Auch in der Musikindustrie gibt es zahlreiche Künstlerinnen und Künstler, die die bisherige Musiklandschaft auf den Kopf stellen. Unter dem Einfluss nahöstlicher Rhythmen und Melodien entsteht vielerorts in Israel eine Melange aus arabischen, jemenitischen, türkischen und hebräischen Klängen. Die zunehmende Rückbesinnung der nahöstlich-jüdischen Israelis auf ihr kulturelles und sprachliches Erbe zeigt sich ganz besonders in der israelischen Popmusik: Die israelische Band A-WA, die aus den drei Schwestern Tair, Liron und Tagel Haim besteht, demonstriert die Wiederentdeckung traditioneller jemenitischer Klänge, gepaart mit Elektro und Hip-Hop. Der Song „Habib Galbi“, zu Deutsch „Geliebter meines Herzens“, den sie im jemenitisch-arabischen Dialekt singen, wurde weit über Israel hinaus wahrgenommen. Auch die Normalisierung der israelisch-emiratischen Beziehungen seit den Abraham-Abkommen von 2020 spiegelte sich in der israelischen Musiklandschaft wider, beispielsweise durch den gemeinsamen Song „Ahlan bik!“, zu Deutsch „Willkommen!“, durch den emiratischen Sänger Walid Aldschasim und den jüdisch-israelischen Künstler Elkana Marziano.
Auch eines der interessantesten Projekte der israelischen Kulturszene
engagierte sich symbolisch für die Wiederentdeckung der jüdisch-arabischen Verflechtungsgeschichte: Die Gruppe Firqat al-Nur widmet sich der klassisch-arabischen Orchestermusik und setzt sich aus arabisch-muslimischen, christlichen, drusischen und jüdisch-israelischen Musikerinnen und Musikern zusammen. Als gemeinsamen jüdisch-arabischen Gruß in die Emirate nahm die Gruppe ein Video auf den Azrieli-Türmen in Tel Aviv auf: Inmitten der „ersten hebräischen Stadt“ am Mittelmeer spielen jüdische und arabische Musiker eine instrumentelle Fassung des Lieds „Ahibbak“, zu Deutsch „Ich liebe dich“, des emiratischen Komponisten und Produzenten Hussain Al Jassmi – besser könnte die vorsichtige israelische Hinwendung zur arabischen Kultur kaum ausgedrückt werden.
Dieser Text ist zuerst erschienen in Politik & Kultur 02/2022.