Gay Pride

Die LGBTQ-Kultur in Israel

Die gigantischen Gay-Pride-Umzüge, die – seit die israelische Popsängerin Dana International 1998 den Eurovision Song Contest gewann – jährlich an der Strandpromenade von Tel Aviv-Jaffa, in Jerusalem, in Haifa und an vielen anderen Orten in Israel stattfinden, zeigen kreative, oft überraschende queere Formen des Umgangs der LGBTQ-Szene in Israel mit grundlegenden Aspekten der israelischen Gesellschaft. Dazu gehören die Wehrpflicht, der israelisch-palästinensische Konflikt, die sozioökonomische Kluft zwischen den aus West- und Osteuropa stammenden aschkenasischen Juden und den aus Nordafrika und dem Nahen Osten eingewanderten sephardischen Juden – vor einigen Jahren starteten die Veranstalter der orientalischen Schwulenparty „Arisa“ eine ungeheuerliche Kampagne, in der sie aschkenasische Juden mit Zombies verglichen – sowie das angespannte Verhältnis zwischen religiösen Fanatikern und säkulären Liberalen.

 

Vor Kurzem wurden in der israelischen LGBTQ-Szene im Rahmen der internationalen, gegen sexuelle Nötigung gerichteten „Me Too“-Bewegung Anschuldigungen gegen zwei homosexuelle Männer laut, die in der Gay-Community eine wichtige Rolle spielen. Es handelte sich dabei um einen beliebten Journalisten, TV-Moderator, Drehbuchautor und Produzenten, der auch einer der Gründer der Schwulen-Jugendbewegung in Israel (IGY) war und der berühmt dafür ist, zahllose israelische Popstars und Politiker zu outen. Der andere ist ein Mitglied des Gemeinderats von Tel Aviv sowie früherer Vorsitzender von Aguda, dem israelischen LGBTQ-Verband, der bedeutende kommunale Projekte für die LGBTQ-Community in Israels liberal­ster Stadt in die Wege leitete.

 

Interessanterweise haben die fortlaufenden polizeilichen Ermittlungen bezüglich der angeblich stattgefunden sexuellen Übergriffe bisher zu keinem Gerichtsprozess geführt. Dennoch ist die LGBTQ-Community zurzeit in den sozialen Medien Zielscheibe homophober Attacken, die Homosexualität erneut mit pervertierter Promiskuität, Männerprostitution und Pädophilie in Verbindung bringen.

 

Es mag ein relativ neues Phänomen sein, dass die israelische Gay-Community eine gewisse Selbstkritik bezüglich ihres Sexualverhaltens übt und dabei die israelische Öffentlichkeit darüber aufklärt, dass nicht nur das sexuelle Wohlbefinden von Frauen, sondern auch das von Männern zählt. Dennoch lässt sich nicht abstreiten, dass die LGBTQ-Szene in Israel seit Jahrzehnten mit erheblichen Problemen zu kämpfen hat. Dazu gehören die Herausforderungen, die sich aus Israels Status als eine Gesellschaft von Immigranten ergeben, die anhaltenden Auswirkungen des Holocaust-Traumas sowie die daraus folgende komplizierte Beziehung zwischen Israelis und Deutschen, insbesondere angesichts des seit einiger Zeit zu beobachtenden massiven Zuzugs junger jüdischer Israelis in das schwulenfreundliche Berlin.

 

Ein ausgezeichnetes Beispiel für eine queere israelische Geschichte über kulturelle israelisch-deutsche Beziehungen ist der Dokumentarfilm „Das verlorene Stück“ von Oded Lotan aus dem Jahr 2007, in dem der Filmemacher der traditionellen rituellen Beschneidung jüdischer Männer auf den Grund geht und mit seiner eigenen schwulen Beziehung zu einem jungen deutschen Mann verbindet.

 

Ein weiteres Beispiel ist der Spielfilm „The Cakemaker“ von Ofir Raul Graizer aus dem Jahr 2017, der die Probleme eines jungen schwulen Deutschen schildert, der in einer jüdischen Konditorei im konservativen Jerusalem arbeitet, die der Witwe seines israelischen Geliebten gehört; der Film beschäftigt sich mit seinen emotionalen Konflikten und seinem Umgang mit fundamentalistischer Bigotterie.

 

Doch die wahrscheinlich berühmteste queere Darstellung einer Beziehung zwischen jüdischen Israelis und Deutschen in der zeitgenössischen israelischen LGBTQ-Kultur ist der 2004 in Israel produzierte Film „Walk on Water“, bei dem Eytan Fox, der bekannteste Filmemacher im neuen schwulen israelischen Kino, Regie führt, und dessen Drehbuch von seinem langjährigen Partner Gal Uchovsky stammt.

 

In dem Film geht es um einen heterosexuellen Mossad-Agenten, der sich mit einem jungen schwulen deutschen Touristen und seiner Schwester anfreundet, um deren Großvater, einen NS-Kriegsverbrecher, zu finden. Ironischerweise bereitet der Mossad-Agent den Tod des alten Mannes vor, nachdem er der deutschen Mittelschichtfamilie den traditionellen israelischen Volkstanz Hava Nagila beigebracht hat. Der israelische Agent füllt eine Spritze mit Gift, bringt es aber dann doch nicht über sich, seinen Plan auszuführen, und geht. Danach schaltet der schwule Deutsche das Sauerstoffgerät seines Großvaters ab, was zu dessen Tod führt.

 

Etwa 12 Jahre nach dem traumatischen, abscheulichen und noch immer ungelösten Massaker in der Bar Noar, einem Treffpunkt der jungen LGBTQ-Szene, im Jahre 2009 hat Israel heute eine überaus lebendige LGBTQ-Kultur mit ihrer eigenen Literatur – vertreten von Schriftstellern wie Ilan Sheinfeld, Yossi Waxman, Yossi Avni, dem arabischen Autor Ayman Sikseck und der lesbischen Poetin Shez – sowie Kinderliteratur. Zu den Vertretern der schönen Künste gehören Maler wie Israel Hemed, Refael Salem, Gil Marco Shani, Raphael „Rafi“ Perez, der arabische Künstler Karam Natour, Daphna Arod und die in Berlin ansässige Transgender-Malerin Roey Victoria Heifetz. Auch die Fotografie ist vertreten mit den homoerotischen Werken von Adi Nes, David Adika, Uri Gershuni, Sichi Gilad und dem verstorbenen Tamir Lahav-Radlmesser.

 

Die LGBTQ-Community produziert ihre eigenen Filme, Theaterstücke, Tänze, Komödien, Denkmäler – unter anderem ein pinkfarbenes dreieckiges Denkmal für die homosexuellen Opfer des nationalsozialistischen Regimes; es gibt LGBTQ-Veranstaltungsorte und -Saunas, überregionale Organisationen, akademische Forschung, queere Pop-Ikonen – vor Kurzem hat sich die im Nahen Osten sehr berühmte Sängerin Sarit Hadad in einem Musikvideo geoutet, in dem sie ihre Liebe zu ihrer langjährigen Partnerin gesteht – sowie queere TV-Werbespots wie die Kampagne der Israel Electric Corporation, die die Geschichte von Sheka („Steckdose“) und Teka („Stecker“) erzählt, einem Paar schwuler Männer, die ihr Kind Schtecker großziehen, gefolgt von einer Werbekampagne von Direct Insurance, in der ein Pärchen grauer Tauben sich um ihr knallblaues Vogelküken kümmert.

 

Dieser Text ist zuerst erschienen in Politik & Kultur 02/2022.

Gilad Padva
Gilad Padva ist Wissenschaftler und Dozent für Queer-Theorie, Männerstudien und Kino-, Fernseh- und Kulturwissenschaft. Sein Buch „Straight Skin, Gay Masks and Pretending to Be Gay on Screen“ wurde 2020 vom Routledge-Verlag veröffentlicht.
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