Im Rahmen der Fünften Alija, in den Jahren zwischen 1933 und 1939, erreichten ungefähr 60.000 aus Deutschland geflohene Jüdinnen und Juden Palästina. Dazu kamen noch ca. 30.000 weitere deutschsprachige Jüdinnen und Juden aus Österreich und der Tschechoslowakei. Als „Jeckes“ sind sie alle in die Geschichtsbücher eingegangen. Die Herkunft des Begriffes ist unklar. Die einen sagen, es stehe für die Jacken – die Jacketts, die die deutschen Juden der Etikette folgend auch bei größter Hitze in Palästina getragen hätten. Die anderen sagen, „Jeckes“ sei eine Abkürzung für das hebräische „jehudi kasche havana“ – ein Jude, der schwer von Begriff ist.
Dass viele von ihnen erst Abschied von Deutschland genommen hatten als Hitler an die Macht gekommen war, wurde ihnen nicht selten zum Vorwurf gemacht: „Kommst du aus Zionismus oder aus Deutschland?“ Waren sie als Flüchtlinge nach Palästina gekommen oder als überzeugte Zionisten, denen am Aufbau des jüdischen Staates gelegen war? Ihre Affinität zur deutschen Sprache und Kultur und ihre sogenannten preußischen Tugenden wie Pünktlichkeit und Genauigkeit erschwerte ihnen die Eingliederung in das neue Land, den Schmelztiegel des „Kibbutz Galuyiot“, als der, der sich im Entstehen befindliche Staat gerne verstand.
Die Historikerin Anja Siegemund hat argumentiert, dass die wiederholt formulierte Kritik an den Jeckes unter anderem dazu geführt habe, dass sie sich immer wieder hätten rechtfertigen müssen. Und so sei das dominante, nahezu apologetische Narrativ des großen „Beitrags“ der deutschen Juden für die israelische Gesellschaft, Kultur und den entstehenden Staat zu Stande gekommen. Dank hätten sie für diesen Beitrag von der israelischen Gesellschaft nicht erfahren, so Moshe Zimmermann und Yotam Hotam. Vor knapp 20 Jahren hatten sie im Jerusalemer Konferenzzentrum Mishkenot Sha’ananim eine mehrtägige Konferenz zum Thema „Die Jeckes“ mitorganisiert, die es sich zur Aufgabe gemacht hatte, die Geschichte und Bedeutung dieser Landsmannschaft jenseits der Apologetik aufzuarbeiten. Die Tagung löste ein bemerkenswertes großes öffentliches Interesse aus, unter anderem bei der zweiten Generation der Jeckes – bei den Kindern jener deutschen Juden, die sich nicht selten für die Sprache und das Verhalten ihrer Eltern geschämt hatten und nun die Geschichte ihrer Eltern kennenlernen wollten. Ein schönes Beispiel dieser Perspektive der damaligen Kinder ist der Dokumentarfilm der beiden Regisseure Aliza Eshed und Eli Abir „Rehavia – das Lachen Jerusalems“ von 2019, in dem die heute betagten Kinder zu einem Spaziergang durch den Jerusalemer Stadtteil Rehavia einladen und beim Schlendern durch die Straßen der Gartenstadt von den Menschen, dem Alltagsleben und der Kultur ihrer Elternhäuser berichten. Hier fallen viele der bekannten Namen jener deutschen und mitteleuropäischen Juden, die mit ihren Leistungen auf den Gebieten der Wissenschaft, Architektur und Kultur herausragen – vom Religionsphilosophen Martin Buber, dem renommierten Erforscher der Kabbala Gershom Scholem, dem ersten Direktor der Nationalbibliothek Samuel Hugo Bergman und dem Pädagogen Ernst Simon bis hin zum Verleger Salman Schocken oder dem Bauhaus-Architekten Richard Kauffmann. Dieses erneute Interesse an den Jeckes hat in den letzten Jahren auch zu vielen Forschungen geführt, die zeigen, wie vielseitig und vielschichtig dieser vergessene „Beitrag“ der deutschen Juden war. So scheint das Werk Lotte Cohns, der ersten Architektin im Jischuw, im kollektiven Gedächtnis Israels fast vergessen zu sein und hier erst durch die Forschungen von Ines Sonder und Sigal Davidi wieder sichtbar zu werden. Ähnliches gilt für die Pionierinnen der Sozialarbeit wie beispielsweise Sidonie Wronsky, deren Werk durch die Forschungen von Ayana Halpern freigelegt wurde. Statt dabei primär nach dem gesellschaftlichen Beitrag der deutschen Juden in Palästina und Israel zu fragen, stehen bei diesen Forschungen Fragen des Wissens- und Kulturtransfers im Vordergrund: Welche Hintergründe und Ausbildungen hatten die Menschen, die in den 1930er Jahren aus dem Herzen Europas in den Nahen Osten migrierten? Was brachten sie mit und wie konnten sie es in ihr neues Leben integrieren? Was waren die Bedingungen für diesen Transfer? Solche Fragen ermöglichen einen Dialog mit den Geschichten anderer Gruppen, die nach Palästina bzw. Israel einwanderten. Das Potenzial der Geschichte der Jeckes und des deutschsprachigen Judentums für das heutige Israel, ist die gesellschaftliche Auseinandersetzung mit den zentralen Fragen und Erfahrungen dieser Einwandererinnen und Einwanderer sowie ihrer Geschichte: Themen wie das Verhältnis von Staat und Religion, von Moderne und Tradition, die Rechte von Minderheiten, Mehrsprachigkeit, Antisemitismus und Migration sind nur einige, die ihre Relevanz in unseren Tagen keineswegs verloren haben.
Dieser Text ist zuerst erschienen in Politik & Kultur 02/2022.