Angenommen, Israel stellt einen Antrag auf Mitgliedschaft in der Europäischen Union – was wäre die Antwort? Die Mitgliedschaft in der EU müsste zurückgestellt oder abgelehnt werden. Aus dem schlichten Grund, weil nach europäischer Auffassung Israel die eigenen Demokratiekriterien nicht erfüllt. Mehr als 70 Jahre nach seiner Staatsgründung, also mehr als 70 Jahre nach dem Beginn der Ausübung jüdischer politischer Souveränität in Israel, ist diese Staatsgründung immer noch nicht vollzogen. Noch gibt es keine endgültigen Grenzen. Das Land kämpft immer noch um seine Unabhängigkeit und es ist Besatzungsmacht. Israel ist demokratisch, aber gleichzeitig keine liberale Demokratie. Seine Hauptstadt ist de facto geteilt und ständig wird über die Heiligkeit dieser Stadt gekämpft. Aber die Lage zwischen Europa, Asien und Afrika ist nicht nur geografisch bedingt. Israel liegt in der Tat in und außerhalb Europas, Asiens und Afrikas.
Nun, beginnen wir damit, dass Israel aus Europa aber nicht in Europa ist. Der Zionismus ist aus Europa, das Land heute ist es nicht. Genau dies bringt auf den Punkt, woraus die Israelskepsis sich heute speist. Wie ist es möglich, dass das Bild Israels, das ins Leben gerufen wurde, bei vielen Menschen in Deutschland – und natürlich nicht nur da – zwischen Pflichtjubel und Feindbild oszilliert? Wird das Spektrum von wohlwollender Gleichgültigkeit und offener, manchmal hassvoller Ablehnung ausreichen, um die absehbaren Brüche und Zusammenbrüche zwischen Deutschland und Israel, ja zwischen großen Teilen Europas und Israel aufzufangen?
Schärfer gefragt: Gibt es überhaupt eine Wirklichkeit, die den Titel „Israel“ verdient, oder ist das nur ein Wunschbegriff für eine Unwirklichkeit, die keiner kritischen Befragung standhält? Welche Projektionsbilder verbergen sich hinter dem, was Israel heißt? Und wenn es wirklich Projektionsbilder sind, die sich da verbergen, dann werden die Fragen der Einstellung gegenüber Israel komplexer, als sie vielleicht im ersten Moment aussehen. Und, so fragt sich dann der Soziologe, wie es um die israelische Gesellschaft und ihren Zusammenhalt bestellt ist.
Ist das Land ein jüdisches Land oder gewissermaßen neutrales Land, das Juden bewohnen dürfen, um vor einer weiteren Katastrophe bewahrt zu bleiben? In allem scheint Psalm 137 weiterzuklingen: „Wenn ich dich je vergesse, Jerusalem, dann soll mir die rechte Hand verdorren.“ Dieser Satz, der seit Jahrtausenden bei jeder jüdischen Hochzeit gesprochen wird, wenn der Bräutigam ein Glas zertritt, um im Exil des zerstörten Jerusalems zu gedenken, bindet natürlich. Aber handelt es sich dabei um die konkrete Stadt Jerusalem mit Müllabfuhr und Abwasser, oder geht es eher um einen heilig aufgeladenen Ort, an dem man auf jedem Schritt Heiligkeit begegnet?
Und seit 1967, also seit der Tempelberg ebenso wie Judäa und Samaria (auch die Westbank oder auch „Besetzte Gebiete“ genannt – je nach politischer Zugehörigkeit) nach dem neuen Schöpfungsakt des Sechstagekriegs zu Israel gehören, ist das noch schwieriger geworden. Die Zeit in Israel ist sakral, auch wenn die zionistische Sprache es nicht immer war. Liberale und aufgeklärte Israelis sind oft religiös unmusikalisch, sehen in der Religion ein Relikt primitiver Zeiten, haben aber keine von der anderen Seite verstandene und anerkannte Sprache, in der sie den religiösen Ansprüchen des zionistischen Projektes etwas entgegensetzen könnten.
Die ideologische Grundlage Israels – der Zionismus – war nicht nur der Name der politischen Bewegung, sie war auch praktische Realpolitik. Es ging um „Rückkehr“. Daher ist auch eines der wichtigsten Gesetze Israels das 1950 verabschiedete Rückkehrgesetz, welches es jedem Juden auf der Welt ermöglicht, nach Israel einzuwandern und die Staatsbürgerschaft zu erhalten – ein Gesetz, welches natürlich partikularen Charakter hat und damit die Zugehörigkeitskriterien legal definiert. Aber diese Rückkehr ist nicht nur ein staatsbürgerlicher Mechanismus, sondern auch ein metaphysischer Akt. Es geht nicht nur um die Rückkehr der Juden in ihre physische Heimat, sondern auch um die Rückkehr der Juden in die Geschichte, von der sie gewaltsam exiliert wurden. Gleichzeitig ist diese Rückkehr keine normale Einwanderung, sondern ein zeitloser und metaphysischer theologischer Mechanismus. Der Zionismus wollte die Juden aus ihrer Weltlosigkeit befreien, ihnen durch „normale“ territoriale Souveränität eine Welt geben, ja durch einen normalen Staat mit seinen Institutionen und staatsbürgerlichen Kriterien zu einem Teil der Weltgemeinschaft machen.
Daher ist Israel auch ein Raum, der von vielen unterschiedlichen Menschen geteilt werden muss. Da sind natürlich die anfangs hegemonischen, sich selbst als säkular verstehenden Aschkenasim der Mittel- und oberen Mittelklasse. Des Weiteren das nationalreligiöse Milieu (dem die Siedlerbewegung angehört), das die Legitimationsherrschaft über die 1967 eroberten Gebiete ausübt, die Mizrachim (die orientalischen Juden), das orthodoxe und ultraorthodoxe Milieu, die Einwanderer aus der ehemaligen Sowjetunion, die äthiopischen Juden, die arabischen – also nichtjüdischen Staatsbürger Israels – und auch in den letzten Jahren die nichtjüdischen Arbeitsmigranten aus Afrika, Lateinamerika, Osteuropa und Asien. Das sind keine eindeutigen Kategorien und man kann diese auch noch mal unterteilen und neu definieren, wie z. B. in Juden und Nichtjuden, Religiöse und Säkulare, Westliche und Orientalische und natürlich auch nach Generation und Geschlechtern, in Neueinwanderer und Alteingesessene. Das heißt auch, dass man von „der“ israelischen Gesellschaft an sich nicht sprechen kann. Es sollte besser von „Gesellschaften“ in Israel gesprochen werden. Gerade in den sehr schnellen Coronamaßnahmen kann man das beobachten. Es wird schnell gehandelt, manchmal wohl etwas zu schnell, was dann wieder zu Verwirrungen zwischen den einzelnen Teilen der Bevölkerung führt, die eigentlich oft nur über den „Ausnahmezustand“ zum kollektiven Handeln fähig ist.
Es geht letztlich auch um die aktuelle Verwirklichung dessen, was sich im Traum der Zionisten verbarg: dass Israel ein normaler Staat werden könnte. Ein Staat, der seinen Bürgerinnen und Bürgern, egal welcher Religion und Herkunft, Sicherheit bietet. Ein Staat in Frieden, ein Staat, der nicht umstritten ist, und ein Staat, der von der Welt akzeptiert wird.
Es sind damit viele Fragen aufgeworfen, vor allem, ob „normale“ Politik für Juden überhaupt möglich ist, ob die Souveränität in der Tat das „jüdische Problem“ gelöst hat. Und letztlich: Ob es gelingen kann, die politischen Kapazitäten des Staates von den mächtigen religiösen und historischen Kräften der jüdischen Volkszugehörigkeit zu unterscheiden. Die zionistische Theorie hat dieses Dilemma nie lösen können. Aber die Praxis bemüht sich darum: Es ist letztlich die notwendige Konsequenz der staatlichen Souveränität, politische Entscheidungen als solche treffen zu können, weil diese Kompetenz genau die Definition der Souveränität ausmacht. Diese Perspektive impliziert ein Konzept der weltlichen und instrumentellen Politik, mit dem die jüdische Geschichte, das ist wahr, nicht wirklich umgehen kann.
Der jüdische Staat entsprang der zionistischen Revolution, einer Revolution, die einerseits einen neuen jüdischen Menschen auf eigenem Territorium begründen wollte, dies aber andererseits nur in Berufung auf die alte jüdische Symbolik bewerkstelligte. Oft werden diese Gegensätze auch mit dem Gegensatz der beiden Städte Tel Aviv und Jerusalem gelesen. Tel Aviv feiert und Jerusalem betet. Stichwort: Eurovison. Aber so einfach kann man es nicht machen. Das heißt, dass man die Idealtypen Tel Aviv und Jerusalem nur gemeinsam denken kann. Der Zionismus war nie eine universale Ideologie, sondern wandte sich immer nur an eine bestimmte ethnisch-religiöse Gruppe. Nationale Symbole sind gleichzeitig religiöse Symbole. Das „Land Israel“ ist gleichzeitig säkulare Heimat und heiliger Boden.
Trotz Besatzung und all den weiteren Problemen ist Israel auch Alltag und alltägliche Praktiken. Holocaustüberlebende, die in einem Strandcafé eine hebräische Zeitung lesen, die aus Nordafrika stammende Bankangestellte, die einem aus Odessa eingewanderten Juden einen Kredit, und zwar auf Hebräisch, ausstellt. Ein arabischer Professor, der in einem hebräisch geschriebenen Zeitungsartikel gleiche Bürgerrechte einfordert, ein orthodoxer Rabbiner, der in einer Polittalkshow auf Hebräisch mehr Heiligkeit für den Sabbat einklagt und den Zionismus, den er eigentlich ablehnt dadurch bekräftigt. Junge LGBT-Menschen, die ihre Ehen anerkannt haben wollen. Junge Studentinnen und Studenten, die nach den neuesten Nachtklubs suchen und sich auch die Vorlesungspläne der Freien Universität in Berlin anschauen. Viele Menschen wollen ein kleines, nichtheroisches und ideologiefreies Leben jenseits der Ideologien führen, ihre Kinder in die Schule schicken, Urlaub machen, sich neue Dinge kaufen, einen Kaffee trinken gehen und den nächsten Tag überleben. In dieser Hinsicht sind diese Gesellschaften in Israel eine beispielslose Erfolgsgeschichte.
Dieser Text ist zuerst erschienen in Politik & Kultur 02/2022.