Wie divers sind die Gruppen junger Menschen, die die Stiftung anspricht? An welchen Schulen ist die Stiftung aktiv?
In unserer Strategie für die nächsten fünf Jahre haben wir uns zum Ziel gesetzt, diverser zu werden – bei unseren Multiplikatoren und Peers sowie bei unserer Zielgruppe. Wir haben fünf Zielgruppen definiert, die wir verstärkt erreichen wollen: junge Menschen aus sozial benachteiligten Haushalten, junge Menschen mit nicht akademischen Bildungsbiografien, Jugendliche aus dem ländlichen Raum, junge Menschen, die sich einer Minderheitengruppe zugehörig fühlen oder sich bisher noch nicht in der Gesellschaft engagieren.
In Programmen wie dem Europäischen Jugendparlament haben wir oft noch das Problem, dass wir zuerst die jungen Leute erreichen, die proeuropäisch eingestellt sind und die Vorzüge Europas in ihrer Biografie schon gelebt haben. Da wollen wir nicht stehen bleiben, wir möchten auch diejenigen erreichen, die diese Privilegien nicht haben.
Für das Europäische Jugendparlament bedeutet das konkret, dass wir mit dem UNHCR kooperieren und Geflüchtete in das Programm aufnehmen. Wir haben einen Diversity-Fund aufgelegt, bei dem wir junge Menschen, die nicht die finanziellen Mittel haben, mit Reisekostenzuschüssen unterstützen, sodass sie zum Europäischen Jugendparlament reisen können. Darüber hinaus haben wir viele Outreach-Programme entwickelt, um neue Zielgruppen anzusprechen. In anderen Programmen, wie unserem Seminarprogramm, sind die Zugänge niedrigschwelliger. Aktuell sind wir mit unserem Seminarprogramm in Deutschland zu 60 Prozent an Haupt-, Real- und Berufsschulen. Für uns spielt das Thema Vorbilder eine wichtige Rolle. Unsere Peer-Trainer – mittlerweile sind es ca. 300 aus 15 europäischen Ländern – haben unterschiedliche Biografien. Dadurch sprechen sie in Schulklassen verschiedene Personengruppen an. Unsere Reisestipendien richten sich an Nicht-Gymnasiasten und Berufsschüler, denen wir die Möglichkeit bieten wollen, Europa zu entdecken. Wir bieten deswegen auch nicht mehr nur Individualreisen, sondern auch Gruppenreisen an. In der Gruppe reist es sich leichter.
Darüber hinaus entwickeln wir mit Partnerorganisationen andere Ansätze politischer Bildungsarbeit, z. B. bilden wir gemeinsam mit der Kreuzberger Kinderstiftung Erstwahlhelferinnnen und -helfer aus, die am 26. Mai im Wahlbüro arbeiten und für den reibungslosen Ablauf der Europawahl sorgen, oder wir unterstützen ein Projekt mit Lernort Stadion e.V. in Kooperation mit dem Auswärtigen Amt, der Allianz Kulturstiftung und der TUI-Stiftung. Dabei reden wir mit Fußballprofis im Stadion über Themen wie Respekt, Toleranz, Diversität und Europa. Diese Zugänge haben eine hohe Attraktivität. So wollen wir nicht nur kleine europäische Eliten erreichen.
Die Zugänge um diverse Gruppen zu erreichen sind zahlreich. Aber wie bringen Sie dann tatsächlich jungen Menschen, die noch nie außerhalb des Heimatortes waren, Europa nahe?
Unsere Erfahrung ist, dass Europa am besten verstanden wird, wenn ein Bezug zur Lebenswelt der Jugendlichen hergestellt wird. Wir versuchen klarzumachen, dass Europa überall drinsteckt. Außerdem fragen wir die Jugendlichen, welche Themen sie interessieren. Darüber können wir Bezüge zu Europa herstellen. Das Entscheidende ist, dass wir nicht so viel über das Europa der Institutionen und Organisationen sprechen, sondern über das Europa der Bürgerinnen und Bürger sowie den aktuellen Bezug zur Lebenswirklichkeit.
Ein wichtiger Baustein unserer Arbeit ist auch die historisch-politische Bildung: Wir glauben, dass wir unsere europäische Geschichte kennen müssen, um über die Gesellschaft, in der wir heute leben, reflektieren zu können und die Gesellschaft von morgen zu gestalten. Z. B. arbeiten wir mit Zeitzeugen, sprechen mit Holocaust-Überlebenden und vergeben den Margot-Friedländer-Preis.
Dabei versuchen wir in all diesen Projekten den Bezug zu heute herzustellen: Was heißt das für uns auf dem Schulhof? Was können wir aus der Geschichte für heute lernen? Das ist Präventionsarbeit, um Stigmatisierung und Ausgrenzung zu verhindern, aber auch die ständige Vergegenwärtigung, dass wir dank der Idee eines geeinten Europas friedlich zusammenleben können.
Inwieweit schlagen sich die vermehrten antieuropäischen Tendenzen auf die Stiftungsarbeit nieder? Begegnen Ihnen diese auch in Klassenräumen?
Gerade vor der Europawahl im Mai 2019 begegnen uns überall, aber gerade auch in den Klassenräumen, viele Vorurteile. Vieles aus den Medien wird wiederholt: „Europa der Bürokraten“, „Europa ist undemokratisch und so weit weg“, „Es kostet alles zu viel Geld“, „Die EU kümmert sich um die Krümmung von Gurken und das Abschaffen von Bleigießen, aber nicht um die wichtigen Themen“. Diesem Blick auf Europa kann man zum Glück häufig mit guter Bildungsarbeit begegnen.
Was für uns viel schwieriger ist, ist der Umgang mit dem grassierenden Populismus, Ausgrenzung und Stigmatisierung und denen, die einen Dialog zu Europa komplett verweigern, die „eine vielfältige europäische Gesellschaft ablehnen und zurück zum Nationalen möchten“. Wir kämpfen dabei auch mit persönlichen Angriffen auf Stipendiatinnen und Stipendiaten. Wir begegnen dem mit Nachdruck und setzen ein anderes Europa dagegen: Das Europa von jungen Menschen, die einen klaren Wertekanon haben und eine vielfältige, tolerante, offene Gesellschaft wollen. Ich persönlich sehe es als Ansporn, unsere Aktivitäten zu verstärken.
Vielen Dank.
Dieses Interview ist zuerst erschienen in Politik & Kultur 05/2019.