Anne Rolvering und Theresa Brüheim - 23. April 2019 Kulturrat_Logo_72dpi-01

Europawahl 2019

Wir müssen lernen, lauter zu werden


Bildungsarbeit für ein Europa der Bürgerinnen und Bürger

1971 wurde die überparteiliche Schwarzkopf-Stiftung Junges Europa von Pauline Schwarzkopf gegründet. Mit ihren Aktivitäten schafft die Stiftung ein Bewusstsein für politische Prozesse und gibt jungen Menschen die Möglichkeit, ihrer Stimme Gehör zu verschaffen. Theresa Brüheim spricht mit der Geschäftsführerin Anne Rolvering über Europavermittlung im Klassenraum, Umgang mit antieuropäischen Tendenzen und mehr.

 

Theresa Brüheim: Frau Rolvering, Stiftungszweck der Schwarzkopf-Stiftung Junges Europa ist „die Förderung der Entwicklung junger Menschen zu politisch bewussten und verantwortungsbereiten Persönlichkeiten mit dem Ziel der Stärkung des europäischen Gedankens, der gesamteuropäischen Völkerverständigung und der Bekämpfung von Rechtsextremismus, Antisemitismus und Rassismus“. Wie wird die Stiftung ihrem Zweck gerecht?
Anne Rolvering: Unsere Stifterin Pauline Schwarzkopf meinte: „Wir müssen aus der Geschichte des 20. Jahrhunderts lernen“ und „wer sich kennt, der hasst sich nicht“. Sie war bereits in den 1970er Jahren überzeugt, dass die Stiftung junge Menschen mit dem europäischen Gedanken erreichen muss.

 

Mit Weitsicht hatte sie erkannt, dass die Idee von Europa als Friedens- und Einheitsprojekt immer wieder neu erarbeitet werden muss. Heute wollen wir junge Menschen befähigen und motivieren, sich aktiv in die europäische Gesellschaft einzubringen, um so eine offene Gesellschaft und liberale Demokratie mitzugestalten.

 

Wie sieht das in der Praxis aus? Wie vermitteln Sie Europa an junge Menschen?
Wir machen nonformale politische und historisch-politische Bildung auf drei Ebenen: Erstens möchten wir Teilhabe und Bildungsprozesse junger Menschen fördern und sichtbar machen. Zweitens möchten wir sie befähigen und motivieren, an internationalen Begegnungs- und Austauschformaten teilzuhaben. Drittens möchten wir die Zustimmung für Demokratie und Vielfalt in Europa erhöhen.

 

Dafür unterstützen wir den Aufbau von Organisationen von und für Jugendliche. Eines unserer größten Programme ist das Europäische Jugendparlament, ein seit 30 Jahren bestehendes Netzwerk. Es befähigt und motiviert junge Menschen in Europa – in den Grenzen des Europarates, also über die Europäische Union hinaus – sich selbst Orte der Begegnung zu schaffen, um dort über gesellschaftspolitische und europäische Themen zu sprechen. So erreichen wir jedes Jahr ungefähr 30.000 junge Europäerinnen und Europäer in 40 Ländern. Unsere Rolle in der Stiftung ist das Capacity-Building: Wir befähigen junge Leute, ihre Themen zu setzen und ihre Ideen sowie Projekte selbst organisiert umzusetzen. Wir unterstützen damit eine Struktur von Jugendlichen für Jugendliche, die sich über Europa austauschen und darüber diskutieren, in welcher europäischen Gesellschaft sie leben möchten.

 

Außerdem sind wir mit jungen Peer-Trainern an Schulen aktiv – besonders in Deutschland, auch wenn sich das Programm mittlerweile in 15 europäischen Ländern etabliert hat. Dort diskutieren wir mit Schülerinnen und Schülern in ihren Klassenverbünden über Europa. Dieser Handlungsstrang wurde vor zehn Jahren ins Leben gerufen. Anfangs war er stark auf Wissensvermittlung zu den europäischen Institutionen ausgerichtet. Mittlerweile haben wir das Programm geöffnet, da wir unsere Aufgabe eher darin sehen, einen interaktiven Raum in der Schule zu schaffen, in dem Schülerinnen und Schüler über Partizipationsmöglichkeiten in Europa nachdenken können. Gleichzeitig versuchen wir den Schülerinnen und Schülern stärker zu verdeutlichen, wo Europa in ihrer Lebenswelt stattfindet und warum es wichtig ist, sich einzubringen und seine Meinung zu vertreten. Das Peer-Projekt an Schulen ist ein Modul, mit dem wir themenaktuell reagieren können. So haben wir z. B. viel zu den Themen Flucht, Asyl, Migration, Integration in Europa mit Schülerinnen und Schülern gearbeitet. Mit den Jugendlichen haben wir ihre Ideen und Vorstellungen, aber auch über ihre Ängste in Bezug auf eine vielfältige europäische Gesellschaft diskutiert.
Wir unterstützen aber auch außerhalb der Schule junge Ideen. Ein Beispiel ist das Projekt „FreeInterrail“ von „Herr & Speer“, eine Initiative mit der einfachen, aber guten Idee, allen 18-Jährigen einen Interrail-Pass zu schenken, mit dem sie durch Europa reisen und es kennenlernen können. Ein ähnliches Programm hatte unsere Stifterin Pauline Schwarzkopf schon vor 40 Jahren aufgesetzt: unser europäisches Reisestipendienprogramm. Wir ergänzen die Idee, durch Europa zu reisen, mit einem themenbezogenen Bildungsauftrag und der Dokumentation über Interviews, Videoclips, Bilder, Fotoreportagen. In den letzten Jahren waren Flucht, Asyl und Migration sehr oft Thema, weil es junge Leute quer über den Kontinent beschäftigt hat. Aber auch mit vielen anderen Themen haben sich junge Leute während ihrer Reisen durch Europa beschäftigt: die verschiedenen Ausbildungssysteme in Europa, die hohe Jugendarbeitslosigkeit in Spanien, Nachhaltigkeit und Mobilität in Europa, Populismus und Medien und natürlich der Brexit.

 

Von einer politikverdrossenen Jugend kann jedenfalls nicht die Rede sein. Dieses ständige Vorurteil, dass wir es mit einer apolitischen Generation zu tun haben, macht mich wütend. Ich erlebe täglich etwas anderes, nämlich eine wache, interessierte und neugierige junge Generation, die nur andere Wege sucht zu gestalten, als es in der Vergangenheit der Fall war.

Wie divers sind die Gruppen junger Menschen, die die Stiftung anspricht? An welchen Schulen ist die Stiftung aktiv?
In unserer Strategie für die nächsten fünf Jahre haben wir uns zum Ziel gesetzt, diverser zu werden – bei unseren Multiplikatoren und Peers sowie bei unserer Zielgruppe. Wir haben fünf Zielgruppen definiert, die wir verstärkt erreichen wollen: junge Menschen aus sozial benachteiligten Haushalten, junge Menschen mit nicht akademischen Bildungsbiografien, Jugendliche aus dem ländlichen Raum, junge Menschen, die sich einer Minderheitengruppe zugehörig fühlen oder sich bisher noch nicht in der Gesellschaft engagieren.

 

In Programmen wie dem Europäischen Jugendparlament haben wir oft noch das Problem, dass wir zuerst die jungen Leute erreichen, die proeuropäisch eingestellt sind und die Vorzüge Europas in ihrer Biografie schon gelebt haben. Da wollen wir nicht stehen bleiben, wir möchten auch diejenigen erreichen, die diese Privilegien nicht haben.

 

Für das Europäische Jugendparlament bedeutet das konkret, dass wir mit dem UNHCR kooperieren und Geflüchtete in das Programm aufnehmen. Wir haben einen Diversity-Fund aufgelegt, bei dem wir junge Menschen, die nicht die finanziellen Mittel haben, mit Reisekostenzuschüssen unterstützen, sodass sie zum Europäischen Jugendparlament reisen können. Darüber hinaus haben wir viele Outreach-Programme entwickelt, um neue Zielgruppen anzusprechen. In anderen Programmen, wie unserem Seminarprogramm, sind die Zugänge niedrigschwelliger. Aktuell sind wir mit unserem Seminarprogramm in Deutschland zu 60 Prozent an Haupt-, Real- und Berufsschulen. Für uns spielt das Thema Vorbilder eine wichtige Rolle. Unsere Peer-Trainer – mittlerweile sind es ca. 300 aus 15 europäischen Ländern – haben unterschiedliche Biografien. Dadurch sprechen sie in Schulklassen verschiedene Personengruppen an. Unsere Reisestipendien richten sich an Nicht-Gymnasiasten und Berufsschüler, denen wir die Möglichkeit bieten wollen, Europa zu entdecken. Wir bieten deswegen auch nicht mehr nur Individualreisen, sondern auch Gruppenreisen an. In der Gruppe reist es sich leichter.

 

Darüber hinaus entwickeln wir mit Partnerorganisationen andere Ansätze politischer Bildungsarbeit, z. B. bilden wir gemeinsam mit der Kreuzberger Kinderstiftung Erstwahlhelferinnnen und -helfer aus, die am 26. Mai im Wahlbüro arbeiten und für den reibungslosen Ablauf der Europawahl sorgen, oder wir unterstützen ein Projekt mit Lernort Stadion e.V. in Kooperation mit dem Auswärtigen Amt, der Allianz Kulturstiftung und der TUI-Stiftung. Dabei reden wir mit Fußballprofis im Stadion über Themen wie Respekt, Toleranz, Diversität und Europa. Diese Zugänge haben eine hohe Attraktivität. So wollen wir nicht nur kleine europäische Eliten erreichen.

 

Die Zugänge um diverse Gruppen zu erreichen sind zahlreich. Aber wie bringen Sie dann tatsächlich jungen Menschen, die noch nie außerhalb des Heimatortes waren, Europa nahe?
Unsere Erfahrung ist, dass Europa am besten verstanden wird, wenn ein Bezug zur Lebenswelt der Jugendlichen hergestellt wird. Wir versuchen klarzumachen, dass Europa überall drinsteckt. Außerdem fragen wir die Jugendlichen, welche Themen sie interessieren. Darüber können wir Bezüge zu Europa herstellen. Das Entscheidende ist, dass wir nicht so viel über das Europa der Institutionen und Organisationen sprechen, sondern über das Europa der Bürgerinnen und Bürger sowie den aktuellen Bezug zur Lebenswirklichkeit.

 

Ein wichtiger Baustein unserer Arbeit ist auch die historisch-politische Bildung: Wir glauben, dass wir unsere europäische Geschichte kennen müssen, um über die Gesellschaft, in der wir heute leben, reflektieren zu können und die Gesellschaft von morgen zu gestalten. Z. B. arbeiten wir mit Zeitzeugen, sprechen mit Holocaust-Überlebenden und vergeben den Margot-Friedländer-Preis.

 

Dabei versuchen wir in all diesen Projekten den Bezug zu heute herzustellen: Was heißt das für uns auf dem Schulhof? Was können wir aus der Geschichte für heute lernen? Das ist Präventionsarbeit, um Stigmatisierung und Ausgrenzung zu verhindern, aber auch die ständige Vergegenwärtigung, dass wir dank der Idee eines geeinten Europas friedlich zusammenleben können.

 

Inwieweit schlagen sich die vermehrten antieuropäischen Tendenzen auf die Stiftungsarbeit nieder? Begegnen Ihnen diese auch in Klassenräumen?
Gerade vor der Europawahl im Mai 2019 begegnen uns überall, aber gerade auch in den Klassenräumen, viele Vorurteile. Vieles aus den Medien wird wiederholt: „Europa der Bürokraten“, „Europa ist undemokratisch und so weit weg“, „Es kostet alles zu viel Geld“, „Die EU kümmert sich um die Krümmung von Gurken und das Abschaffen von Bleigießen, aber nicht um die wichtigen Themen“. Diesem Blick auf Europa kann man zum Glück häufig mit guter Bildungsarbeit begegnen.

 

Was für uns viel schwieriger ist, ist der Umgang mit dem grassierenden Populismus, Ausgrenzung und Stigmatisierung und denen, die einen Dialog zu Europa komplett verweigern, die „eine vielfältige europäische Gesellschaft ablehnen und zurück zum Nationalen möchten“. Wir kämpfen dabei auch mit persönlichen Angriffen auf Stipendiatinnen und Stipendiaten. Wir begegnen dem mit Nachdruck und setzen ein anderes Europa dagegen: Das Europa von jungen Menschen, die einen klaren Wertekanon haben und eine vielfältige, tolerante, offene Gesellschaft wollen. Ich persönlich sehe es als Ansporn, unsere Aktivitäten zu verstärken.

 

Vielen Dank.

 

Dieses Interview ist zuerst erschienen in Politik & Kultur 05/2019.


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