Europa ist kein Egotrip

Aktivismus für Europa

Das Reden über EU-Politik in der pro-europäischen Blase reichte Katja Sinko nicht mehr. Anlass dafür war der Brexit-Schreck aus dem Jahr 2016. Heute engagiert sie sich mittels E-Petitionen, Demonstrationen und mehr für ein solidarisches Europa. Theresa Brüheim spricht mit der jungen Europa-Aktivistin über ihre Kampagne „The European Moment“, das Fehlen europäischer Solidarität und den „#EuropeanMay“.

 

Theresa Brüheim: Wie ist es gerade um die EU bestellt?
Katja Sinko: Die EU ist das Erfolgsprojekt des 20. Jahrhunderts, wir aber leben im 21. Jahrhundert. Die EU ist in der Krise. Der Moment, um sie zu verändern und für die Herausforderungen der Zukunft zu wappnen, ist längst überfällig. Das wurde seit der Jahrtausendwende nicht ausreichend getan. Es kamen immer mehr Mitgliedstaaten hinzu, es wurde mehr Europa, mehr Vertiefung in immer mehr Politikfeldern angestrebt. Gleichzeitig nahmen Tendenzen zu, die weniger Europa und mehr nationalstaatliche Lösungen fordern. Hinzu kommt, dass die EU bis heute noch keine wirkliche Union der Bürgerinnen und Bürger ist. Als Folge der Krise haben viele Menschen das Vertrauen in das europäische Projekt verloren, viele trauen der EU nicht mehr zu, die heutigen Probleme zu lösen. Die Migrationskrise hat keinen EU-weiten Verteilungsschlüssel und auch kein überarbeitetes Asylsystem gebracht, sondern die EU immer mehr zur Festung Europa ausgebaut, in der nur wenige Mitgliedsländer das Asylrecht hochhalten.

 

In welche Richtung sollte sich die EU verändern?
Der Gedanke europäischer Solidarität ist – das zeigt die Krise in der sich die EU befindet – zu kurz gekommen. In der Theorie häufig befürwortet, ist die Realität hingegen eine andere. Nehmen Sie etwa Griechenland: Viele haben gefordert, das Land aus der EU zu werfen. Das würde innerhalb Deutschlands kein Mensch von einzelnen Bundesländern fordern, nur weil z. B. Berlin ein Schuldenproblem hat. Stattdessen gibt es den Länderfinanzausgleich. Innerhalb der Nation ist man solidarisch, warum nicht auf europäischer Ebene? In der EU geht es viel zu sehr um nationalstaatliche Einzelinteressen, die häufig hinter verschlossenen Türen verhandelt werden. Aber Herausforderungen wie Migration, Klimawandel, Sicherheitsfragen, Digitalisierung oder demografischer Wandel kann niemand allein nationalstaatlich lösen.

 

Es geht mir nicht darum aufzuzeigen, was nicht funktioniert. Denn es ist auch unsere Aufgabe – gerade von denjenigen, die Europa anders erfahren haben, die zur oft betitelten „Easyjet-Generation“ gehören – den europäischen Gedanken in den Mitgliedstaaten weiterzutragen und die Werte zu verinnerlichen und zu leben. Es ist die Aufgabe meiner Generation, diese Errungenschaften, die unsere Großeltern erstritten haben, wie Frieden und die vier Grundfreiheiten des Binnenmarktes, zu verteidigen.

 

Aus diesem Grund haben Sie vor zwei Jahren „The European Moment“ ins Leben gerufen, eine Kampagne von jungen engagierten Menschen. Wie genau kam es dazu?
Ausschlaggebend war das politische Schreckensjahr 2016 mit dem Brexit-Referendum, der Wahl von Donald Trump zum US-Präsidenten, dem generellen Rechtsruck in ganz Europa. Da hatte ich das Gefühl, reden reicht nicht mehr, wir müssen mehr machen, sichtbar werden, auf die Straße gehen. Ich sage immer: „Machen ist wie wollen. Nur krasser.“ Man muss für das einstehen, wovon man in typischen Europablasen-Gesprächen redet. Ähnlich wie bei „Fridays for Future“, wo die jungen Schülerinnen und Schüler sagen: „Hier geht es um unsere Zukunft. Wir wollen nicht, dass sie zerstört wird.“ So ging es uns auch: Europa ist für meine Generation so selbstverständlich – und dennoch akut in Gefahr. „The European Moment“ versammelt keine „Jubeleuropäerinnen und Jubeleuropäer“. Wir wollen nicht den Status quo beibehalten, wir wollen die EU verändern. Sie soll demokratischer, nachhaltiger und solidarischer werden.

 

Was unterscheidet „The European Moment“ von anderen Initiativen?
Wir haben „The European Moment“ ganz bewusst nicht als neuen Verein, sondern als Kampagne organisiert. Vor allem in Berlin gibt es viele pro-europäische Initiativen, Organisationen, Vereine. Sie setzen sich im Grunde alle für dasselbe Ziel ein, aber jeder kocht sein eigenes Süppchen. Wenn wir aber ein pro-europäisches Gegengewicht darstellen wollen, müssen wir zusammenarbeiten. Genau das entspricht dem europäischen Gedanken: Gemeinsam ist man stärker. Klingt pathetisch, ist aber so.

 

2017 haben wir erstmals gemeinsam mit einigen anderen Organisationen den „March for Europe“ in Berlin organisiert. Zwei Jahre später beim „March for a New Europe“ waren es bereits 50 Bündnispartner. Was uns bestärkt: Es gibt nun viel mehr Kommunikation unter den Initiativen und Organisationen. Wir haben viel dafür getan, dass Vertrauen aufgebaut wird. Denn natürlich gibt es unterschiedliche Ansichten, wie Europa ausgestaltet sein soll: European Alternatives ist anders als DiEM25, die Jungen Europäischen Föderalisten oder Pulse of Europe. Zusammen bringt alle der Glauben an das europäische Projekt und dass sich etwas verändern muss. Damit sich etwas verändert, müssen wir als Zivilgesellschaft Druck ausüben. Gemeinsam wollen wir die zivilgesellschaftliche Antwort auf die Debatte zur Zukunft der EU geben. Dazu gehört es, nicht nur zu kritisieren, sondern auch Vorschläge zu liefern. 2017 hatten wir nach der Bundestagwahl die E-Petition „Bundestag #MachsEuropäisch“ an die Bundesregierung gerichtet, die unter den drei erfolgreichsten im ganzen Jahr war. Gemeinsam verfasst und unterstützt wurde die Petition von 24 Organisationen und Initiativen – ein Riesenerfolg! Die 13 Forderungen unserer E-Petition waren nicht neu. Wir forderten z. B., dass bei den Wahlen zum Europäischen Parlament jede Stimme gleich viel zählt und dass das Parlament ein Initiativrecht bekommt. Außerdem forderten wir, dass die Sitzungen des EU-Ministerrates öffentlich sind und dass der Europäische Gerichtshof Sanktionen gegen Mitgliedstaaten verhängen darf, die Grundrechte der EU verletzen. Seit Jahren lagen diese Forderungen in den Schubladen. Im Sommer 2017 wurden sie hervorgeholt und von einem breiten Bündnis aus proeuropäischen Organisationen getragen. Letztlich ist unsere E-Petition nach anderthalb Jahren im Petitionsausschuss durchgegangen.

Katja Sinko und Theresa Brüheim
Katja Sinko ist Initiatorin von "The European Moment" und koordiniert derzeit die "Ein Europa Für Alle" Demo am 19. Mai 2019. Im Juni ernannte Bundesministerin Franziska Giffey sie zur Engagement-Botschafterin 2018 für Zivilgesellschaft in Europa. Theresa Brüheim ist Chefin vom Dienst von Politik & Kultur.
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