Katja Sinko und Theresa Brüheim - 23. April 2019 Kulturrat_Logo_72dpi-01

Europawahl 2019

Europa ist kein Egotrip


Aktivismus für Europa

Das Reden über EU-Politik in der pro-europäischen Blase reichte Katja Sinko nicht mehr. Anlass dafür war der Brexit-Schreck aus dem Jahr 2016. Heute engagiert sie sich mittels E-Petitionen, Demonstrationen und mehr für ein solidarisches Europa. Theresa Brüheim spricht mit der jungen Europa-Aktivistin über ihre Kampagne „The European Moment“, das Fehlen europäischer Solidarität und den „#EuropeanMay“.

 

Theresa Brüheim: Wie ist es gerade um die EU bestellt?
Katja Sinko: Die EU ist das Erfolgsprojekt des 20. Jahrhunderts, wir aber leben im 21. Jahrhundert. Die EU ist in der Krise. Der Moment, um sie zu verändern und für die Herausforderungen der Zukunft zu wappnen, ist längst überfällig. Das wurde seit der Jahrtausendwende nicht ausreichend getan. Es kamen immer mehr Mitgliedstaaten hinzu, es wurde mehr Europa, mehr Vertiefung in immer mehr Politikfeldern angestrebt. Gleichzeitig nahmen Tendenzen zu, die weniger Europa und mehr nationalstaatliche Lösungen fordern. Hinzu kommt, dass die EU bis heute noch keine wirkliche Union der Bürgerinnen und Bürger ist. Als Folge der Krise haben viele Menschen das Vertrauen in das europäische Projekt verloren, viele trauen der EU nicht mehr zu, die heutigen Probleme zu lösen. Die Migrationskrise hat keinen EU-weiten Verteilungsschlüssel und auch kein überarbeitetes Asylsystem gebracht, sondern die EU immer mehr zur Festung Europa ausgebaut, in der nur wenige Mitgliedsländer das Asylrecht hochhalten.

 

In welche Richtung sollte sich die EU verändern?
Der Gedanke europäischer Solidarität ist – das zeigt die Krise in der sich die EU befindet – zu kurz gekommen. In der Theorie häufig befürwortet, ist die Realität hingegen eine andere. Nehmen Sie etwa Griechenland: Viele haben gefordert, das Land aus der EU zu werfen. Das würde innerhalb Deutschlands kein Mensch von einzelnen Bundesländern fordern, nur weil z. B. Berlin ein Schuldenproblem hat. Stattdessen gibt es den Länderfinanzausgleich. Innerhalb der Nation ist man solidarisch, warum nicht auf europäischer Ebene? In der EU geht es viel zu sehr um nationalstaatliche Einzelinteressen, die häufig hinter verschlossenen Türen verhandelt werden. Aber Herausforderungen wie Migration, Klimawandel, Sicherheitsfragen, Digitalisierung oder demografischer Wandel kann niemand allein nationalstaatlich lösen.

 

Es geht mir nicht darum aufzuzeigen, was nicht funktioniert. Denn es ist auch unsere Aufgabe – gerade von denjenigen, die Europa anders erfahren haben, die zur oft betitelten „Easyjet-Generation“ gehören – den europäischen Gedanken in den Mitgliedstaaten weiterzutragen und die Werte zu verinnerlichen und zu leben. Es ist die Aufgabe meiner Generation, diese Errungenschaften, die unsere Großeltern erstritten haben, wie Frieden und die vier Grundfreiheiten des Binnenmarktes, zu verteidigen.

 

Aus diesem Grund haben Sie vor zwei Jahren „The European Moment“ ins Leben gerufen, eine Kampagne von jungen engagierten Menschen. Wie genau kam es dazu?
Ausschlaggebend war das politische Schreckensjahr 2016 mit dem Brexit-Referendum, der Wahl von Donald Trump zum US-Präsidenten, dem generellen Rechtsruck in ganz Europa. Da hatte ich das Gefühl, reden reicht nicht mehr, wir müssen mehr machen, sichtbar werden, auf die Straße gehen. Ich sage immer: „Machen ist wie wollen. Nur krasser.“ Man muss für das einstehen, wovon man in typischen Europablasen-Gesprächen redet. Ähnlich wie bei „Fridays for Future“, wo die jungen Schülerinnen und Schüler sagen: „Hier geht es um unsere Zukunft. Wir wollen nicht, dass sie zerstört wird.“ So ging es uns auch: Europa ist für meine Generation so selbstverständlich – und dennoch akut in Gefahr. „The European Moment“ versammelt keine „Jubeleuropäerinnen und Jubeleuropäer“. Wir wollen nicht den Status quo beibehalten, wir wollen die EU verändern. Sie soll demokratischer, nachhaltiger und solidarischer werden.

 

Was unterscheidet „The European Moment“ von anderen Initiativen?
Wir haben „The European Moment“ ganz bewusst nicht als neuen Verein, sondern als Kampagne organisiert. Vor allem in Berlin gibt es viele pro-europäische Initiativen, Organisationen, Vereine. Sie setzen sich im Grunde alle für dasselbe Ziel ein, aber jeder kocht sein eigenes Süppchen. Wenn wir aber ein pro-europäisches Gegengewicht darstellen wollen, müssen wir zusammenarbeiten. Genau das entspricht dem europäischen Gedanken: Gemeinsam ist man stärker. Klingt pathetisch, ist aber so.

 

2017 haben wir erstmals gemeinsam mit einigen anderen Organisationen den „March for Europe“ in Berlin organisiert. Zwei Jahre später beim „March for a New Europe“ waren es bereits 50 Bündnispartner. Was uns bestärkt: Es gibt nun viel mehr Kommunikation unter den Initiativen und Organisationen. Wir haben viel dafür getan, dass Vertrauen aufgebaut wird. Denn natürlich gibt es unterschiedliche Ansichten, wie Europa ausgestaltet sein soll: European Alternatives ist anders als DiEM25, die Jungen Europäischen Föderalisten oder Pulse of Europe. Zusammen bringt alle der Glauben an das europäische Projekt und dass sich etwas verändern muss. Damit sich etwas verändert, müssen wir als Zivilgesellschaft Druck ausüben. Gemeinsam wollen wir die zivilgesellschaftliche Antwort auf die Debatte zur Zukunft der EU geben. Dazu gehört es, nicht nur zu kritisieren, sondern auch Vorschläge zu liefern. 2017 hatten wir nach der Bundestagwahl die E-Petition „Bundestag #MachsEuropäisch“ an die Bundesregierung gerichtet, die unter den drei erfolgreichsten im ganzen Jahr war. Gemeinsam verfasst und unterstützt wurde die Petition von 24 Organisationen und Initiativen – ein Riesenerfolg! Die 13 Forderungen unserer E-Petition waren nicht neu. Wir forderten z. B., dass bei den Wahlen zum Europäischen Parlament jede Stimme gleich viel zählt und dass das Parlament ein Initiativrecht bekommt. Außerdem forderten wir, dass die Sitzungen des EU-Ministerrates öffentlich sind und dass der Europäische Gerichtshof Sanktionen gegen Mitgliedstaaten verhängen darf, die Grundrechte der EU verletzen. Seit Jahren lagen diese Forderungen in den Schubladen. Im Sommer 2017 wurden sie hervorgeholt und von einem breiten Bündnis aus proeuropäischen Organisationen getragen. Letztlich ist unsere E-Petition nach anderthalb Jahren im Petitionsausschuss durchgegangen.

Was ist als nächstes geplant?
Seit dem „March For A New Europe“ hat sich Einiges getan. Wir haben uns transnationalisiert, d. h. mit anderen pro-europäischen progressiven Europäerinnen und Europäern vernetzt. Gemeinsam rufen wir den „European May“ aus. Vom 1. Mai, dem Tag der Arbeit, bis zum 9. Mai, dem Tag des wichtigen EU-Gipfels zur Zukunft der EU in Sibiu in Rumänien, wollen wir mit kreativem Protest und disruptiven Aktionen unsere Vision eines progressiven Europas proklamieren – sowohl online als auch offline. Die ersten zwei Jahre lag der Fokus von „The European Moment“ auf deutschlandweiten Aktionen. Wir müssen jedoch europaweit agieren, um unsere Ziele zu erreichen. In vielen Städten und Regionen in Europa werden ähnliche Kämpfe geführt – ob es für Frauenrechte oder gegen Rassismus und Klimawandel ist. Die Idee des „European May“ ist, diese zu verbinden. Wir wollen aufzeigen, dass die offene Gesellschaft in Gefahr ist, wenn wir sie nicht verteidigen. Bei unseren Aktionen müssen wir dann die Rockstars sein, sodass andere Groupies sein wollen, weil es Spaß macht und cool ist, sich für Europa stark zu machen. Höhepunkt ist dann die Demo »Ein Europa für Alle – Deine Stimme gegen Nationalismus« am 19. Mai 2019. Zeitgleich werden Zehntausende in sieben deutschen Städten sowie weiteren europäischen Städten für ihre Vision eines demokratischen, friedlichen, nachhaltigen und solidarischen Europas auf die Straßen gehen und den Nationalisten eine Absage erteilen. Das wird auch im Rahmen des „#EuropeanMay“ unterstützt.

 

Gerade im Vorfeld dieser richtungsweisenden Europawahlen soll für eine andere EU mobilisiert werden. Denn aktuell gibt es keinen politischen Willen, umfangreiche politische Änderungen vorzunehmen. Zumindest sehe ich den nicht. Schaut man sich den immer weiter voranschreitenden Aufstieg der Rechtspopulisten und Nationalisten in der EU an, dann wird es im EU-Parlament zukünftig nicht die großen progressiven – dringend benötigten – Schritte geben, ganz im Gegenteil. Aktuell ist fast jeder vierte Abgeordnete im Europäischen Parlament dem rechten bzw. euroskeptischen Lager zugehörig. Die Umfragen versprechen nichts Gutes: Nach der Wahl könnte es jeder Dritte sein. Es ist ein Schicksalsjahr, die Handlungsfähigkeit der EU steht auf dem Spiel.

 

Wie versuchen Sie Bürgerinnen und Bürger, die noch nichts mit Europa zu tun hatten, zu motivieren, für ihren Kontinent einzustehen?
Ich komme aus der europapolitischen Bildungsarbeit. Ich habe jahrelang für die Schwarzkopf-Stiftung Junges Europa an Berliner und Brandenburger Schulen „Europa verstehen“-Kurse gegeben und viel aus der Zeit mitgenommen. Die Abschaffung der Roaming-Gebühren in der EU überzeugt niemanden, der noch nie im Ausland war und nicht von diesen Errungenschaften direkt profitiert. Ich war vor Kurzem an einer Brandenburger Schule. Viele kannten Erasmus nicht – ein klassisches Beispiel. Glückliche aus der Europa-Bubble kennen das Förderprogramm aus ihrer Studienzeit, haben es oft selbst gemacht. Aber was ist mit den Auszubildenden? Gilt für sie genauso, aber das wissen die Wenigsten. Da muss man tatsächlich mehr machen, sodass sich ein Multiplikatoreffekt einstellt. Mein Mitbewohner ist Koch. Er hat ein halbes Jahr in Frankreich die französische Cuisine gelernt. All das ist möglich, wenn man davon weiß.

 

Auf Ihrer Handyhülle steht: „In welchem Europa willst du leben?“ In welchem wollen Sie leben?

Ich möchte in einem Europa leben, in dem das Versprechen von Europa für alle Realität ist. In einem Europa, das solidarisch, nachhaltig, demokratisch ist und die Werte hochhält, die nicht nur für einige Privilegierte Realität sind, sondern für alle. In diesem Europa sollte es wirklich um die Bürgerinnen und Bürger gehen, und nicht nur um irgendwelche nationalstaatlichen oder wirtschaftlichen Interessen, denn Europa ist kein Egotrip.

 

Vielen Dank.

 

Dieses Interview ist zuerst erschienen in Politik & Kultur 05/2019.


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