Die Renaissance der EU

Der Zukunftskurs des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses

Apropos Kultur: Glauben Sie, dass es eine europäische Kultur gibt? Falls ja, wo und wann ist diese spürbar?
Wir dürfen nicht den Fehler begehen, uns die europäische Identität oder Kultur wie eine unbewegliche Statue oder ein Foto vorzustellen. Das ist der Fehler, den die Souveränisten und die neue Rechte machen. Die europäische Identität und Kultur sind eine Art Film, der ständig weiterentwickelt wird; ein Film, in dem Neues entsteht und sich vermischt; ein Film, in dem Konzepte aufeinanderprallen und in dem es infolge zu Versöhnung, Verständnis und erneuter Konfrontation kommt. Dies macht Europa so dynamisch. Denken wir zurück an die Zeit, als Europa zutiefst gespalten war. Zum Schluss entstand durch die Einheit Europas eine außerordentliche Kraft, die den Aufbau des europäischen Raums vorantreibt.

 

Aktuell findet der jährliche Jugendkongress des EWSA „Your Europe, Your Say!“ (YEYS) statt. Junge Schülerinnen und Schüler aus allen EU-Mitgliedstaaten und Kandidatenländern kommen zusammen, um über die Zukunft der EU zu diskutieren und Ideen zu planen. Was will der EWSA damit erreichen? Wie sorgen Sie dafür, dass diese Initiative mehr ist als ein rein symbolischer Akt?
Schaut man sich nur die Zahlen an, hat die Mehrheit der Schüler in Europa nicht von der Initiative profitiert, obwohl dieses Format bereits seit zehn Jahren besteht. Damals war es eine innovative Idee, auf diese Weise mit der europäischen Jugend zu kommunizieren. Der Gedanke ist noch immer fantastisch: Wir wählen nicht nur Schulen aus den Mitgliedstaaten, sondern auch aus Ländern außerhalb der EU aus, die entweder bereits Beitrittskandidaten sind oder mit denen noch verhandelt wird. EWSA-Mitglieder besuchen die ausgewählten Schulen und diskutieren mit den Schülern. Danach laden wir die Schüler zusammen mit ihren Lehrern nach Brüssel ein. Die Schüler verlassen zunächst ihre Stadt, ihre Schule und reisen ins Herz Europas, wo sie viele gleichaltrige Schüler aus anderen Ländern treffen, um Dinge zu entdecken, die weit über ihren bisherigen Erfahrungshorizont hinausgehen. Für die allermeisten Schüler ist es eine einmalige Erfahrung. Sie treffen nicht nur jemanden aus einem anderen Land, sondern viele unterschiedliche Menschen, die verschiedene Sprachen sprechen. Sie nehmen zwei Tage lang an einem Rollenspiel teil. Dabei lernen sie die Aufgaben des EWSA kennen. Sie erfahren, dass es viele Interessen gibt, und es schwierig ist, andere Kulturen zu verstehen, Dinge im Zusammenhang zu sehen und ein Dokument zu entwickeln. Eine ziemlich einzigartige Erfahrung. Wir hoffen, dass die Initiative weiter an Bedeutung gewinnt und dass sich Nachahmer finden.

 

Haben Sie einen Ratschlag für junge Wähler, die im Mai an den Europäischen Wahlen teilnehmen?
Erstens: Setzt das, was frühere Generationen erreicht haben, nicht als gegeben voraus. Vieles, was heutzutage normal ist, war für die Generation meines Vaters keine Selbstverständlichkeit. Meine Generation und die Generation nach mir nehmen diese Errungenschaften als gegeben hin. Denkt daran, was ihr im Geschichtsunterricht in der Schule gelernt habt. Wir leben heute in einer einzigartigen Zeit, was Europa angeht. Dennoch können durch Veränderungen Dinge verloren gehen. Wir müssen uns dafür einsetzen, das Erreichte zu erhalten und weiter auszubauen. Zweitens: Schaut euch das schlimme Beispiel des Brexits an. Obwohl die meisten jungen Wähler für den Verbleib in der EU stimmten, zogen es sehr viele junge Briten vor, nicht zur Wahl zu gehen. Sie meinten, das ginge sie nichts an. Nun müssen sie mit den Folgen ihrer Entscheidung leben. Hätten sie sich beteiligt, wäre die Abstimmung anders ausgegangen. Daran solltet ihr denken, wenn ihr meint, bestimmte Dinge gingen euch nichts an. Drittens: Nehmt euch ein Beispiel an der fantastischen Greta Thunberg, einer jungen Schülerin, die Eigeninitiative zeigt und eine Bewegung ins Leben gerufen hat, die sich rasant verbreitet. Junge Schüler sind in der Lage, sich den öffentlichen Raum zurückzuerobern und all den Hetzern und Souveränisten etwas entgegenzusetzen. Lasst euch das ein Vorbild sein: Wenn ihr wollt, könnt ihr auch.

 

Wie stellen Sie sich das Europa von 2030 vor?
Es ist nicht das erste Mal, dass Europa an einem kritischen Punkt ist. Wir könnten dem Beispiel des Vereinigten Königreichs folgen. Die dortige Lage zeigt, dass selbst ein altes und starkes Land sich dafür entscheiden kann, Selbstmord zu begehen. Das ist nicht das erste Mal in der Geschichte. Denken wir nur an das Römische oder Ägyptische Reich. An einem bestimmten Punkt waren sie nicht länger in der Lage, Macht auszuüben; sie trafen eine schlechte Entscheidung nach der anderen. Daher kann selbst Europa angesichts des Drucks von außen, der inneren Zerrissenheit und des Unvermögens, die Migrationskrise unter Kontrolle zu bekommen, letztendlich zugrunde gehen. Auf der anderen Seite hat sich Europa als sehr fähig erwiesen, in Schlüsselbereichen Beeindruckendes zu leisten. Ich denke an die Fähigkeit der EU, die gemeinsame Währung in der seit 1929 schlimmsten und schwerwiegendsten Geld- und Finanzkrise der Geschichte zu verteidigen. Der Euro ist noch immer eine starke Währung. Im Rahmen des Juncker-Plans gelang es Europa, eine beeindruckende neue Investitionsstrategie zu entwickeln, die zu Wachstum und mehr Arbeitsplätzen führte. Europa war in der Lage, mit der Agenda 2030 eine klare Strategie für nachhaltige Entwicklung zu präsentieren. Ein solches Vorgehen kann zu einer Win-win-Situation führen. Denken wir nur an erneuerbare Energien, Elektroautos oder an Änderungen im städtischen Nahverkehr. So könnte der neue Gesellschafts- und Wirtschaftsvertrag für das 21. Jahrhunderts aussehen. Ich bin positiv gestimmt, da einiges auf eine „rEUnaissance“ hindeutet und viele den Weckruf gehört haben.

 

Vielen Dank.

 

Dieser Text ist zuerst erschienen in Politik & Kultur 05/2019.

Luca Jahier und Theresa Brüheim
Luca Jahier ist Präsident des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses (EWSA). Theresa Brüheim ist Chefin vom Dienst von Politik & Kultur.
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