Die Renaissance der EU

Der Zukunftskurs des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses

Der Präsident des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses (EWSA), Luca Jahier, hält nicht nur die Fahne der europäischen Zivilgesellschaft, sondern auch der Kultur hoch. Theresa Brüheim spricht anlässlich des Jugendevents „Your Europe, Your Say!“, das Jugendliche aus 33 europäischen Ländern zusammenbringt, mit ihm über seine Agenda für Europa und die Bedeutung europäischer Kulturpolitik.

 

Theresa Brüheim: Herr Jahier, seit 2002 sind Sie Mitglied im EWSA, seit April 2019 sind Sie dessen Präsident. Was hat sich in dieser Zeit im EWSA geändert?
Luca Jahier: Im Laufe dieser 17 Jahre hat sich vieles geändert. Als ich Mitglied im EWSA wurde, ähnelte der Ausschuss einer kleinen, handgefertigten Schatulle. Unser Gebäude in Brüssel lag in der Nähe des Grande Place, weit entfernt vom Europäischen Viertel. Es arbeiteten weniger Leute bei uns. Die große EU-Erweiterung stand noch bevor. Nach und nach haben wir uns zu einem „Haus der Zivilgesellschaft“ entwickelt. Jede Woche finden dutzende Meetings, Anhörungen, Versammlungen und Debatten statt. Als ich 2002 hierherkam, richteten wir jedes Jahr ungefähr 20 Veranstaltungen für Nicht-Mitglieder aus. Mittlerweile organisieren wir über 2.000 Anhörungen und Versammlungen in Brüssel und in den Mitgliedstaaten. Die Dynamik hat sich grundlegend geändert. Auch geografisch haben wir uns verändert: Unser Gebäude befindet sich im institutionellen Dreieck zwischen Rat, Kommission und Parlament. Dies verdeutlicht die Schlüsselrolle des EWSA als Beratungsorgan für die drei Institutionen und als Unterstützer für die örtlichen Behörden.

 

Wie sehen Ihre Pläne für Ihre verbleibende Amtszeit aus? Welche Ziele haben Sie sich gesetzt?
Mit zweieinhalb Jahren ist die Amtszeit des EWSA-Präsidenten sehr kurz. Ich habe den Slogan der „rEUnaissance“ gewählt und will eine Verbindung zwischen dem Konzept der Renaissance und der Europäischen Union herstellen. Solange ich Präsident bin, werde ich mich in vier Bereichen engagieren: Erstens bin ich überzeugt, dass die Agenda 2030 der Vereinten Nationen die Schlüsselstrategie für die nächste Legislaturperiode sein muss. In den letzten fünf Jahren haben wir einiges erreicht. Aber es bleibt noch viel zu tun. Die Agenda 2030 muss der Plan für die Zukunft sein. Die Grundlage dafür ist Artikel 3 des Vertrags, der von allen Mitgliedstaaten verabschiedet wurde. Das letzte Reflexionspapier der Agenda 2030 für Nachhaltige Entwicklung, welches von der Kommission vorgeschlagen wurde, ist ein weiterer Schritt.

 

Zweitens werde ich alles dafür tun, dass der Kultur in Europa mehr politische Bedeutung eingeräumt wird. 2018 war das Europäische Jahr des Kulturerbes. Deutlich wurde, dass Kultur die Hauptantriebskraft eines neuen europäischen Narrativs und Teil einer neuen europäischen Renaissance sein kann.

 

Drittens möchte ich der Jugend den Platz geben, der ihr zusteht. Es ist nicht unsere Aufgabe, der Jugend zu sagen, was sie tun soll oder wofür sie sich einzusetzen hat. Glücklicherweise erkennen wir in dieser Generation viele positive Ansätze, z. B. die fantastische „Fridays for Future“-Initiative von Greta Thunberg. Wir müssen den Jugendlichen erlauben, eine Schlüsselrolle bei der Gestaltung der Gegenwart und der Zukunft zu spielen.

 

Kultur sollte, wie Sie sagten, einer der Hauptantriebsfedern für Europa werden. Was wollen Sie an der EU-Kulturpolitik ändern?
Das Wichtigste ist, dass sich die Menschen, bevor sie sich mit Politik beschäftigen, der Bedeutung von Kultur bewusst werden. Im Europäischen Kulturerbejahr 2018 befasste man sich erneut, aber nicht ausreichend mit dem Thema. Kultur entfaltet eine enorm positive Kraft. In jedem Land müssen wir wieder verstehen und neu artikulieren, woher wir kommen, wer wir sind und wohin wir wollen. Wir müssen uns wieder bewusst machen, dass allein die Kultur uns zwei Dinge ermöglicht: Erstens geht es bei Kultur darum, dass Dinge aufeinandertreffen, sich miteinander verbinden, und dass etwas Neues aufgebaut wird. So hat sich Kultur immer dargestellt – selbst in den schlimmsten und dunkelsten Tagen unserer Geschichte. Zweitens hilft uns Kultur, die Grundwerte, die die Basis für Zusammenhalt in unseren heutigen politischen Strukturen bilden, neu zu verstehen. Kultur kann außerdem beitragen, wieder Vertrauen zu fassen, Verbindungen zwischen Völkern zu erneuern und Menschen zu überzeugen, dass Unterschiede bereichernd sind.

 

Kultur ist eine gewaltige Kraft, die Wirtschaftswachstum und Arbeitsplätze schafft. Man denke nur an den Kultursektor, die Kreativindustrie und den Bildungstourismus. Ich komme aus Italien, wo der Kulturtourismus von großer Bedeutung ist. Er ist einer der Bereiche, die selbst in den zehn Jahren der Finanzkrise zum Anstieg des europäischen BIP beitrugen, in dem mehr Unternehmen gegründet wurden und mehr Menschen Arbeit fanden. Allerdings sind viele Arbeitnehmer im Kultursektor nicht ausreichend abgesichert und haben keinen festen Arbeitsvertrag. Das ist ein Problem, das es zu lösen gilt.

 

Kultur ist auch ein Hauptwesensmerkmal der „Soft Power“ in Europa, die wesentlich zu Frieden und Fortschritt beiträgt. Im nächsten Parlament müssen wir alles dafür tun, eine Beschneidung der Kulturausgaben im EU-Haushalt zu vermeiden und das Kulturbudget auszuweiten. Kultur muss die vierte Säule einer nachhaltigen Entwicklung werden. Neben Wirtschaftswachstum, gesellschaftlicher Inklusion und Umweltverträglichkeit muss der Kultur mehr Bedeutung eingeräumt werden; wir brauchen eine Bewegung, die das Verständnis für diese neue Dynamik einer nachhaltigen Entwicklung fördert. Davon sind wir im Moment meilenweit entfernt, aber nach meinem Dafürhalten ist dies der richtige Weg.

Apropos Kultur: Glauben Sie, dass es eine europäische Kultur gibt? Falls ja, wo und wann ist diese spürbar?
Wir dürfen nicht den Fehler begehen, uns die europäische Identität oder Kultur wie eine unbewegliche Statue oder ein Foto vorzustellen. Das ist der Fehler, den die Souveränisten und die neue Rechte machen. Die europäische Identität und Kultur sind eine Art Film, der ständig weiterentwickelt wird; ein Film, in dem Neues entsteht und sich vermischt; ein Film, in dem Konzepte aufeinanderprallen und in dem es infolge zu Versöhnung, Verständnis und erneuter Konfrontation kommt. Dies macht Europa so dynamisch. Denken wir zurück an die Zeit, als Europa zutiefst gespalten war. Zum Schluss entstand durch die Einheit Europas eine außerordentliche Kraft, die den Aufbau des europäischen Raums vorantreibt.

 

Aktuell findet der jährliche Jugendkongress des EWSA „Your Europe, Your Say!“ (YEYS) statt. Junge Schülerinnen und Schüler aus allen EU-Mitgliedstaaten und Kandidatenländern kommen zusammen, um über die Zukunft der EU zu diskutieren und Ideen zu planen. Was will der EWSA damit erreichen? Wie sorgen Sie dafür, dass diese Initiative mehr ist als ein rein symbolischer Akt?
Schaut man sich nur die Zahlen an, hat die Mehrheit der Schüler in Europa nicht von der Initiative profitiert, obwohl dieses Format bereits seit zehn Jahren besteht. Damals war es eine innovative Idee, auf diese Weise mit der europäischen Jugend zu kommunizieren. Der Gedanke ist noch immer fantastisch: Wir wählen nicht nur Schulen aus den Mitgliedstaaten, sondern auch aus Ländern außerhalb der EU aus, die entweder bereits Beitrittskandidaten sind oder mit denen noch verhandelt wird. EWSA-Mitglieder besuchen die ausgewählten Schulen und diskutieren mit den Schülern. Danach laden wir die Schüler zusammen mit ihren Lehrern nach Brüssel ein. Die Schüler verlassen zunächst ihre Stadt, ihre Schule und reisen ins Herz Europas, wo sie viele gleichaltrige Schüler aus anderen Ländern treffen, um Dinge zu entdecken, die weit über ihren bisherigen Erfahrungshorizont hinausgehen. Für die allermeisten Schüler ist es eine einmalige Erfahrung. Sie treffen nicht nur jemanden aus einem anderen Land, sondern viele unterschiedliche Menschen, die verschiedene Sprachen sprechen. Sie nehmen zwei Tage lang an einem Rollenspiel teil. Dabei lernen sie die Aufgaben des EWSA kennen. Sie erfahren, dass es viele Interessen gibt, und es schwierig ist, andere Kulturen zu verstehen, Dinge im Zusammenhang zu sehen und ein Dokument zu entwickeln. Eine ziemlich einzigartige Erfahrung. Wir hoffen, dass die Initiative weiter an Bedeutung gewinnt und dass sich Nachahmer finden.

 

Haben Sie einen Ratschlag für junge Wähler, die im Mai an den Europäischen Wahlen teilnehmen?
Erstens: Setzt das, was frühere Generationen erreicht haben, nicht als gegeben voraus. Vieles, was heutzutage normal ist, war für die Generation meines Vaters keine Selbstverständlichkeit. Meine Generation und die Generation nach mir nehmen diese Errungenschaften als gegeben hin. Denkt daran, was ihr im Geschichtsunterricht in der Schule gelernt habt. Wir leben heute in einer einzigartigen Zeit, was Europa angeht. Dennoch können durch Veränderungen Dinge verloren gehen. Wir müssen uns dafür einsetzen, das Erreichte zu erhalten und weiter auszubauen. Zweitens: Schaut euch das schlimme Beispiel des Brexits an. Obwohl die meisten jungen Wähler für den Verbleib in der EU stimmten, zogen es sehr viele junge Briten vor, nicht zur Wahl zu gehen. Sie meinten, das ginge sie nichts an. Nun müssen sie mit den Folgen ihrer Entscheidung leben. Hätten sie sich beteiligt, wäre die Abstimmung anders ausgegangen. Daran solltet ihr denken, wenn ihr meint, bestimmte Dinge gingen euch nichts an. Drittens: Nehmt euch ein Beispiel an der fantastischen Greta Thunberg, einer jungen Schülerin, die Eigeninitiative zeigt und eine Bewegung ins Leben gerufen hat, die sich rasant verbreitet. Junge Schüler sind in der Lage, sich den öffentlichen Raum zurückzuerobern und all den Hetzern und Souveränisten etwas entgegenzusetzen. Lasst euch das ein Vorbild sein: Wenn ihr wollt, könnt ihr auch.

 

Wie stellen Sie sich das Europa von 2030 vor?
Es ist nicht das erste Mal, dass Europa an einem kritischen Punkt ist. Wir könnten dem Beispiel des Vereinigten Königreichs folgen. Die dortige Lage zeigt, dass selbst ein altes und starkes Land sich dafür entscheiden kann, Selbstmord zu begehen. Das ist nicht das erste Mal in der Geschichte. Denken wir nur an das Römische oder Ägyptische Reich. An einem bestimmten Punkt waren sie nicht länger in der Lage, Macht auszuüben; sie trafen eine schlechte Entscheidung nach der anderen. Daher kann selbst Europa angesichts des Drucks von außen, der inneren Zerrissenheit und des Unvermögens, die Migrationskrise unter Kontrolle zu bekommen, letztendlich zugrunde gehen. Auf der anderen Seite hat sich Europa als sehr fähig erwiesen, in Schlüsselbereichen Beeindruckendes zu leisten. Ich denke an die Fähigkeit der EU, die gemeinsame Währung in der seit 1929 schlimmsten und schwerwiegendsten Geld- und Finanzkrise der Geschichte zu verteidigen. Der Euro ist noch immer eine starke Währung. Im Rahmen des Juncker-Plans gelang es Europa, eine beeindruckende neue Investitionsstrategie zu entwickeln, die zu Wachstum und mehr Arbeitsplätzen führte. Europa war in der Lage, mit der Agenda 2030 eine klare Strategie für nachhaltige Entwicklung zu präsentieren. Ein solches Vorgehen kann zu einer Win-win-Situation führen. Denken wir nur an erneuerbare Energien, Elektroautos oder an Änderungen im städtischen Nahverkehr. So könnte der neue Gesellschafts- und Wirtschaftsvertrag für das 21. Jahrhunderts aussehen. Ich bin positiv gestimmt, da einiges auf eine „rEUnaissance“ hindeutet und viele den Weckruf gehört haben.

 

Vielen Dank.

 

Dieser Text ist zuerst erschienen in Politik & Kultur 05/2019.

Luca Jahier und Theresa Brüheim
Luca Jahier ist Präsident des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses (EWSA). Theresa Brüheim ist Chefin vom Dienst von Politik & Kultur.
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