Die Fähigkeit zum Perspektivwechsel

Margret Wintermantel und Theresa Brüheim im Gespräch über den DAAD, Erasmus, Brexit und vieles mehr

Theresa Brüheim: Frau Wintermantel, 2017 ist ein großes Jubiläumsjahr, unter anderem feiert das Austauschprogramm Erasmus seinen 30. Geburtstag. Seit 1987 koordiniert der Deutsche Akademische Austauschdienst (DAAD) das Programm und ist zuständig für die Umsetzung im Hochschulbereich in Deutschland. Welche Botschaft vermittelt Erasmus als europäische Erfolgsgeschichte in Zeiten der europäischen Wirtschaftskrise, des Brexits? Also in einer Zeit, in der europäische Erfolgsgeschichten rar sind?
Margret Wintermantel: Eine erste, sehr einfache Erasmus-Botschaft lautet: Kontakte schaffen Sympathie. Aber jetzt etwas genauer: jungen Menschen die Möglichkeit zu eröffnen, Erfahrungen in anderen Ländern zu sammeln, während des Studiums gemeinsam mit ihren Altersgenossen aus anderen Nationen zu lernen, sich auszutauschen, über aktuell wichtige Fragen zu diskutieren, aber auch Freunde zu gewinnen, miteinander Party zu machen und zu feiern. Das ist ganz offenbar ein Erfolgsrezept gegen Fremdenfeindlichkeit, Abschottung, Angst vor Globalisierung und Anfälligkeit für nationalistische Einstellungen. Mit dem Erasmus-Programm ist es gelungen und wird ganz sicher weiterhin gelingen, dass aus den ausgewählten Studierenden an europäischen Hochschulen, die im Rahmen dieses Programms ins Ausland gehen konnten, überzeugte Europäer und Europäerinnen geworden sind. Sie haben nicht nur studiert, Freundschaften geschlossen und teilweise Lebenspartner gefunden, sondern auch tatsächlich so etwas wie eine europäische Identität entwickelt. Dies ist unser Eindruck, der durch Umfragen bestätigt wird, die zeigen, dass sich die Erasmus-Alumni im Vergleich zu ihren Kommilitonen deutlich stärker als Europäer wahrnehmen.

 

Welche Werte vermittelt Erasmus?
Es gibt sicherlich keine direkte und gezielte „Vermittlung“ spezieller Werte im Studium, wenn auch die Orientierung an Rationalität, Argumentationsintegrität oder auch der Notwendigkeit zur intersubjektiv gültigen Begründung von Behauptungen im Studium erlernt werden sollten. Doch durch die intensiven Erfahrungen in einem anderen kulturellen Kontext, wie sie durch die Teilnahme am Erasmus-Programm ermöglicht werden, eröffnen sich neue, ungewohnte Perspektiven, wodurch die jungen Menschen toleranter, weltoffener, verständnisvoller gegenüber anderen, zunächst fremden Gewissheiten und Gewohnheiten werden. Sie verstehen auf einmal, dass man Dinge anders sehen und anders tun kann als zu Hause und dies wirkt sich auf ihre Bewertungen von beobachteten Ereignissen in der Realität aus. Wir wissen, dass sich durch den Erasmus-Austausch und generell durch die Auslands­erfahrung von Studierenden und Wissenschaftlern eine große Offenheit gegenüber anderen Kulturen, ja ein vertieftes Verständnis entwickeln kann, welches schließlich den Weltbürger, die Weltbürgerin auszeichnet. Neben allen erworbenen Qualifikationen und Fachkompetenzen schaffen diese Erfahrungen ein Bewusstsein für ein Europa der Einheit in Vielfalt.

 

Neben Frankreich ist Großbritannien eines der beliebtesten Zielländer deutscher Studierender und Wissenschaftler. Ich denke, dass sicher auch viele DAAD-Stipendiaten die britischen Inseln durch einen Erasmus-Aufenthalt etc. ihre zweite Heimat nennen. Was bedeutet der Brexit jetzt für die deutsch-britischen Wissenschaftsbeziehungen?
Für die Wissenschaftsbeziehungen einschließlich des studentischen Austauschs und auch der Teilnahme am Erasmus-Programm ist der Brexit schlicht bedauerlich. Er verändert deutlich die über Jahre aufgebaute Architektur des europäischen Hochschul-und Forschungsraums. Denn die britischen Wissenschaftler haben durch den Zugang zu den europäischen Forschungsförderprogrammen und die vielfältigen Kooperationen mit anderen europäischen Wissenschaftlern ihre Leistungen in hohem Maße steigern können ebenso wie natürlich ihre Partner ebenfalls von dieser Zusammenarbeit profitieren konnten. Dies alles ist jetzt infrage gestellt. Und was den studentischen Austausch betrifft, so weiß noch niemand, welche zusätzlichen Kosten für die Studierenden entstehen und wie sich die Teilhabe am Erasmus-Programm entwickeln wird. Wir sind gespannt.

 

Sie haben erwähnt, dass das Erasmusprogramm auch die europäische Identität stärkt. Was denken Sie als Präsidentin des DAAD, wenn die britische Premierministerin Theresa May sagt: „Wer ein Bürger von Welt ist, ist ein Bürger von nirgendwo“?
Im DAAD sehen wir das natürlich nicht so. Jeder Mensch braucht eine Heimat, aber er muss auch wissen, dass es jenseits der eigenen Welt auch noch andere Welten gibt und welche das sind. Für seine Urteilsfähigkeit ist es unabdingbar, dass er sich in der Welt „umschaut“. Alexander von Humboldt brachte dies so zum Ausdruck: „Die gefährlichste Weltanschauung ist die von Menschen, die die Welt nicht angeschaut haben.“ Wir sind überzeugt, dass Erfahrungen außerhalb der eigenen Heimat nicht nur die Urteilsfähigkeit verbessern, sondern auch zur Bildung der Persönlichkeit beitragen: Offenheit, Toleranz, Neugier, Respekt vor anderen Menschen, all dies können positive Ergebnisse eines Auslandsaufenthalts sein. Der DAAD kennt viele Erzählungen ehemaliger Stipendiaten, in denen immer wieder über die positiven Impulse der Erfahrungen des Studiums in einem fremden Land für die weitere berufliche Laufbahn, aber auch die Entwicklung und Reifung der Persönlichkeit berichtet wird.

 

Nun ist Erasmus aber nur ein Teil der zahlreichen Aktivitäten des DAAD. Sie betreiben in 60 Ländern weltweit Außenstellen und Informationszentren und sind damit ein zentraler Akteur der Auswärtigen Kultur- und Bildungspolitik Deutschlands. Wie koordiniert man so ein großes Netzwerk erfolgreich?
Sie sagen zu Recht, dass wir durch die globale Präsenz unserer Außenstellen, Informationszentren und über 500 Lektoren weltweit ein einmaliges Wissen über Wissenschafts- und Hochschulsysteme haben und als Mittlerorganisation im Bereich der Internationalisierung über ein Alleinstellungsmerkmal verfügen. Die Koordination eines so großen Netzwerks ist natürlich eine Frage des Austauschs zwischen den Außenstellen, den Informationszentren und der Zentrale. Unsere Leute vor Ort sind nicht für immer dort, sondern kommen wieder zurück, andere werden hingeschickt, um das Wissen lebendig zu erhalten und neue Impulse zu setzen. Es gibt bestimmte Ereignisse wie das Treffen der Außenstellenleiter oder das Lektoren-Sommertreffen, wo unsere Kolleginnen und Kollegen im Sommer in Bonn zusammenkommen. Wir sind natürlich auch über Arbeitsplattformen virtuell miteinander verbunden. Die Informationen laufen von der Zentrale in die Auslandsbüros und von den Auslandsbüros wieder zurück in die Zentrale.

 

Wie gestaltet sich die Zusammenarbeit zwischen einem Gastland und dem DAAD?
Unsere Leute vor Ort haben einen kurzen Draht zu den Botschaften und zu unseren ausländischen Partnerorganisationen, Ministerien und Hochschulen. Sie verhandeln z. B. mit den jeweiligen Regierungsstellen über Stipendienprogramme oder Hochschulkooperationsprojekte. So wie wir an internationalen Kooperationen interessiert sind, so sind die Gastländer auch an einem Austausch mit Deutschland interessiert. Weltweit gilt das deutsche Wissenschafts- und Innovationssystem als sehr attraktiv. Bei den Kooperationen spielt es eine Rolle, dass man unsere Tradition von Lehre und Forschung sehr schätzt. Ich war Anfang Februar in Kenia, wo wir in Zusammenarbeit mit deutschen Fachhochschulen eine deutsch-ostafrikanische Hochschule für angewandte Wissenschaften aufbauen. Die Kenianer sind sehr an dem Modell der deutschen Fachhochschule interessiert, weil es dort an Möglichkeiten der praxisorientierten Ausbildung fehlt.

 

Wie gestaltet sich denn die Kooperation mit „schwierigen“ Ländern?
Zunächst möchte ich zurückfragen: Was sind schwierige Länder? Schwierig wird es insbesondere dort, wo die Politik bestimmt, was in der Forschung in den Blick genommen werden soll, wenn sie sich also einmischt und dadurch die Wissenschaftsfreiheit beschädigt, wenn qualifizierte und renommierte Wissenschaftler allein aus politischen Gründen nicht mehr forschen und publizieren können, was sie wollen, dann ist es auch für den DAAD nicht ganz einfach, weiter zu kooperieren. Wir haben aber Erfahrungen, dass trotzdem auch dann, wenn die Diplomatie gar nicht mehr funktioniert, wir im akademischen Austausch weiter interagieren können – in einer Art der Wissenschaftsdiplomatie. Dies galt etwa auch für Kuba oder auch den Iran, wo unsere Verbindungen nie abgerissen sind, nicht zuletzt auch, weil dort viele Alumni in der Wissenschaft tätig sind, die den Kontakt zu den deutschen Universitäten und anderen Hochschulen pflegen und unbedingt aufrechterhalten wollen.

 

Sie haben gerade schon das Wort „Wissenschaftsdiplomatie« benutzt. Was verstehen Sie darunter?
Im Rahmen von Wissenschaft und im Austausch von Hochschulen entwickelt sich natürlich eine Argumentationskultur, in der auch über politische Fakten gesprochen wird. Und in der natürlich auch eine Wertediskussion stattfindet. Das halten wir für außerordentlich wichtig und sehen das als einen Teil von Wissenschaftsdiplomatie an.

 

Kann dieser wissenschaftliche Austausch die diplomatischen Beziehungen von Ländern verbessern? Quasi eine Annäherung durch Wissenschaft?
Ich denke schon. Ich habe vorhin das Beispiel des europäischen Hochschul- und Forschungsraumes genannt. Ich bin nun auch eine Weile im Vorstand der European University Association gewesen. Dort arbeiten 800 Hochschulen zusammen. Natürlich erfolgt durch diese gemeinsame Diskussion über Reformen im Hochschulsystem, über verbesserte Lehre und Forschungsbedingungen ein Stück weit eine Annäherung unterschiedlicher Perspektiven auf Politik und Gesellschaft und damit auch eine Annäherung von Denkweisen und Möglichkeiten zur Lösung von Konflikten.

 

Der DAAD ermöglicht nicht nur zahlreichen deutschen Stipendiaten weltweit zu studieren und zu forschen, sondern auch Tausenden internationalen Stipendiaten, nach Deutschland zu kommen. Wie gelingt Integration der Studenten und Forscher aus aller Welt in Deutschland?
Etwa 340.000 ausländische Studierende sind derzeit bei uns in Deutschland. Darüber freuen wir uns und hoffen, dass diese jungen Leute nicht nur Erfolg im Studium haben werden, sondern dass sie sich in unseren Hochschulen und in unserer Gesellschaft überhaupt wohlfühlen. Wir unterstützen zahlreiche Aktivitäten in den Hochschulen vor Ort, die geeignet sind, die ausländischen Studierenden zu betreuen, sie im besten Sinn willkommen zu heißen. In jüngster Zeit haben wir angesichts der vielen Geflüchteten in Deutschland spezielle Programme zur Unterstützung des Zugangs talentierter Flüchtlinge zu den Hochschulen und dem Studium entwickelt, Programme, die sehr erfolgreich laufen. Besonders froh sind wir darüber, dass unsere deutschen Studierenden diese Aktivitäten mit hohem persönlichem Einsatz unterstützen.

 

Wie sieht es denn mit der Anerkennung der Abschluss­urkunden bei Geflüchteten aus, die nach Deutschland kommen und vielleicht schon in ihrer Heimat ein Studium begonnen oder abgeschlossen haben?
Ja, das ist eine wichtige Frage. Auch zur Anerkennung und Prüfung bereits erbrachter Studienleistungen finanzieren wir Programme, die auf etablierten Testverfahren aufbauen. Wir müssen sicherstellen, dass diese Vorerfahrung oder das Gelernte anerkannt werden. In den letzten Jahren hat sich bei der Anerkennung von Studienleistungen viel verbessert, aber wir müssen noch weiter daran arbeiten.

 

Zum Abschluss noch die Frage: Wo sehen Sie den DAAD und den internationalen Austausch in Zukunft?
Wenn wir nochmal anschließen an die Fragen nach den Tendenzen der Wissenschaftsfeindlichkeit, der Krisen in der Welt, der Europaskepsis, der Abschottung und Fremdenfeindlichkeit, dann muss jedem klar sein, dass der akademische Austausch weiter gefördert werden muss. Wir brauchen diese Freiräume des offenen Dialogs, des Diskurses in den Hochschulen. Wir brauchen die Fähigkeit unserer jungen Leute zum Perspektivwechsel. Und ich denke, wir können auch unsere Geldgeber und die Politik überzeugen, dass dieser Austausch von Studierenden und Wissenschaftlern sinnvoll und nützlich ist und nur positive Wirkungen hat. Wir müssen unseren Weg weitergehen und noch mehr Leute ermutigen und ihnen helfen, ins Ausland zu gehen, internationale Erfahrungen zu sammeln. Von all dem braucht es gerade jetzt nicht weniger, sondern mehr Austausch, also mehr Erasmus, mehr Stipendien, mehr Dialog.

 

Ich danke Ihnen für das Gespräch.

 

Dieser Text ist zuerst erschienen in Politik & Kultur 3/2017.

Margret Wintermantel und Theresa Brüheim
Margret Wintermantel ist Präsidentin des Deutschen Akademischen Austauschdienstes (DAAD). Theresa Brüheim ist Chefin vom Dienst von Politik & Kultur.
Vorheriger ArtikelEchte Souveränität
Nächster ArtikelWissen für Wissenschaftskooperationen