Bloßer Zaungast oder Architekt der Welt von morgen – welchen Weg wird Europa einschlagen? Die nächsten sechs Monate werden diese Frage entscheidend beantworten. Die Europäische Union wird sich bis zum Frühsommer 2019 fundamental verändert haben. Das Vereinigte Königreich wird nach mehr als 45 Jahren die EU verlassen. Im Mai werden die verbleibenden 27 EU-Staaten mit ihrem Gipfel im rumänischen Sibiu einen europäischen Neustart angehen. Ein wichtiges Signal, denn am 26. Mai finden die Europawahlen statt. Jede Stimme zählt, denn die Wahlen werden richtungsweisend für die kommenden fünf Jahre sein. Rechtspopulisten und offene EU-Gegner könnten weitaus mehr Sitze im Europäischen Parlament erhalten, als es einer gesunden Sachdebatte zur Zukunft Europas zuträglich ist. Ihnen geht es nicht darum, Lösungen für die dringenden Probleme zu finden – Migration, Klimaveränderung, Sicherheit – sondern Schuldige. Sie stellen Europa als einen Wettbewerb der Nationalstaaten dar, in dem es nur Gewinner und Verlierer gibt. Was wir aber brauchen, sind Führungsstärke und ein fairer Streit um die besten Lösungsansätze. Das wäre souverän.
Die Welt wird zunehmend instabiler. Aus vertrauten Partnern können, schneller als gedacht, unbeständige Nachbarn werden. Und in Wahrheit wartet niemand auf Europa. Wir sind selbst dafür verantwortlich, welche Rolle Europa in der Welt von morgen spielen soll. Europa hat gute Ideen für die Gestaltung dieser Welt. Wir sind der stärkste verbliebene Leuchtturm universeller Werte. Aber wenn wir nicht Zuschauer sein wollen, muss Europa jetzt Souveränität zeigen. Oder, um es mit den Worten von Kommissionspräsident Jean-Claude Juncker zu sagen: Europa muss „weltpolitikfähig“ werden. Nur, wenn Europa nach außen mit einer Stimme spricht, kann es die Weltbühne als Akteur mitgestalten und damit seine Prinzipien, seine Interessen und sein soziales Lebensmodell weiterhin verwirklichen.
Ursprünglich war die Europäische Gemeinschaft nicht auf „Weltpolitikfähigkeit“ ausgerichtet. Sie war eine reine Wirtschaftsgemeinschaft, die nach dem Zweiten Weltkrieg Wohlstand und friedliche Beziehungen untereinander geschaffen hat. Das hat funktioniert, weil die Europäer sich zutrauten, Souveränität zu bündeln und solidarisch zu handeln. Europa ist da stark und souverän, wo es eine Union ist, die geschlossen auftritt. Dies gilt insbesondere dort, wo Gemeinschaftsinstitutionen handeln. Der Binnenmarkt und die Handelspolitik sind gute Beispiele: Man denke an das Treffen Jean-Claude Junckers mit US-Präsident Donald Trump im Weißen Haus im Juli, bei dem Juncker einen Handelskonflikt deshalb abwenden konnte, weil er für die Union als Ganze sprechen konnte. Um relevant zu bleiben, müssen wir als Wirtschaftsgemeinschaft also zusammenhalten. Denn schon 2020 wird 90 Prozent des weltweiten Wirtschaftswachstums außerhalb Europas stattfinden. Bald schon wird kein einzelner EU-Staat mehr am Tisch der G7-Runde zu finden sein. Nur gemeinsam als EU bleiben wir dauerhaft Top 3 oder 4, also relevant, in der Welt. Eine weitere Bündelung von europäischer Souveränität wird also zur Notwendigkeit.
Deshalb ist der nächste Schritt, auch in der Außenpolitik den Mut zu haben, mit einer Stimme zu sprechen. Das ist ein sensibler Bereich, weil er genuin nationale Befindlichkeiten betrifft. Aber wenn es um Menschenrechte in China oder um Sanktionen gegen das Regime in Venezuela geht, haben sich die Europäer durch das in der gemeinsamen Außenpolitik geltende Einstimmigkeitsprinzip häufig selbst ausgebremst. Es reichte aus, dass ein einzelner Mitgliedstaat ein Veto einräumte, um Europa vom Akteur zum Zaungast zu machen. Handlungsfähigkeit würde Europa beweisen, wenn es den Mut hätte, mit qualifizierter Mehrheit zu entscheiden. Die europäischen Verträge würden dies zulassen.
Europäische Souveränität bedeutet nicht, dass Europa sich dadurch gegen andere Partner in der Welt richtet. Europa muss und wird immer ein offener und toleranter Kontinent bleiben, der ein umfassendes Konzept für die globale Entwicklung verfolgt: Nicht nur für sich selbst, sondern auch für andere. Es wird von Europa schlicht erwartet, dass es weltpolitikfähig wird, wenn es die globale Entwicklung führend mitgestalten und prägen will.
Und eines muss auch klar sein: Europäische Souveränität kann nationale Souveränität nicht ersetzen. Vielmehr erwächst sie aus der nationalen Souveränität der Mitgliedstaaten. Bündeln sie ihre Souveränität dort, wo es nötig ist, werden sie dadurch nur an Stärke gewinnen. Niemand Geringerer als Franz-Josef Strauß schrieb bereits in den 1960er Jahren, dass wir „Europäer werden müssen, um Deutsche zu bleiben“. Das ist heute noch immer die Quintessenz davon, Teil der Europäischen Union zu sein: Wir sind stärker, wenn wir zusammenstehen und uns nicht auseinanderdividieren lassen.
Die Europäische Kommission steht bereit, eine Führungsrolle zu übernehmen, um Europa zu einem Hauptakteur der Veränderung zu machen. Wir Europäer haben es in den Händen, besonders durch unsere Stimme bei den Europawahlen. Haben wir den Mut zu europäischer Souveränität!
Dieser Text ist zuerst erschienen in Politik & Kultur 6/2018.