Der Schlüssel für nachhaltige Entwicklung

Auswärtige Kultur- und Bildungspolitik spielt eine zentrale Rolle

Kultur als Entwicklungsmotor
Angesichts der globalpolitischen Lage sind Kultur, kulturelle Vielfalt und Kreativwirtschaft gerade jetzt wichtige Innovationsressourcen. Sie bieten Orientierung, Identifikations- und Integrationsmöglichkeiten in einer zunehmend globalisierten Welt, sie geben Raum für das Testen neuer Lösungen und sie eröffnen Investitionsmöglichkeiten, wie z. B. in die stark wachsende afrikanische Filmindustrie. Um diese Entwicklungschancen zu fördern und zu nutzen, setzt die deutsche Entwicklungspolitik aktuell in vier Bereichen an: Alle Vorhaben der entwicklungspolitischen Zusammenarbeit sind kultursensibel auf ihren jeweiligen sozio-kulturellen Kontext im Partnerland ausgerichtet. Kulturelle Kompetenz ist ein wichtiges Auswahlkriterium unserer Fachkräfte und Bestandteil ihrer beruflichen Weiterbildung. Denn wir entwickeln Unterstützungsprojekte gemeinsam mit unseren Partnern vor Ort. Nur so können kulturelle Aspekte von beiden Seiten einfließen. Die Berücksichtigung von Religion in der Entwicklungspolitik ist ein Beispiel dafür. Acht von zehn Menschen weltweit fühlen sich einer Religion zugehörig. Zudem sind religiöse Organisationen in vielen autoritären Staaten die einzige zivilgesellschaftliche Kraft. Es gibt aber auch kulturelle Praktiken, die Menschenrechte verletzen oder sich entwicklungshemmend auswirken. Dazu zählen weibliche Genitalverstümmelung oder Zwangs- und Kinderheirat. Wir sprechen diese schädlichen Praktiken offen an und unterstützen gesellschaftliche Veränderungsprozesse zu deren Abschaffung, z. B. in Mauretanien die Überwindung der weiblichen Genitalverstümmelung. Hier hat der Dialog über die menschenrechtsverletzende Praxis mit und zwischen den religiösen Gelehrten zu konkreten Veränderungen geführt. So entwickelten die islamischen Gelehrten ein Rechtsgutachten und eine Predigthilfe für Moscheevorbeter und -prediger. Heute engagieren sich immer mehr Gelehrte und Imame gegen weibliche Genitalverstümmelung.

 

Das Potenzial von Kultur für Entwicklung wird außerdem sichtbar, wenn kulturelle Vielfalt und damit Identifikationsmöglichkeiten gezielt gefördert werden, beispielsweise im Rahmen einer lebendigen Kulturpolitik. Wichtig sind eine unabhängige Kultur- und Medienlandschaft sowie demokratische Teilhabe. Musik, Theater, Film oder darstellende Kunst bieten Räume für eine kritische Auseinandersetzung mit gesellschaftspolitischen Missständen. Die Kunst- und Kreativszene wirkt oft als Katalysator, engagierte Kulturschaffende sind Seismografen gesellschaftlicher Veränderung. Sie geben durch ihre Arbeit wichtige Impulse für Demokratisierung und Korruptionsbekämpfung. Die deutsche Entwicklungspolitik berät Partnerregierungen bei der Ausgestaltung ihrer jeweiligen Kulturpolitik und arbeitet eng mit relevanten Kultur- und Bildungsinstitutionen zusammen, z. B. beim Aufbau von Managementkapazitäten oder bei der Entwicklung von Lehrplänen. So unterstützt ein Programm der deutschen Entwicklungspolitik in elf Ländern Zentral- und Südamerikas den Zugang von Indigenen zu Bildung und den Schutz indigenen Wissens in Zusammenarbeit mit den Verbänden der indigenen Bevölkerung. Der geschaffene Lehrstuhl ist inzwischen als UNESCO-Lehrstuhl für indigenes Wissen anerkannt und eine Referenz für alternative Hochschulbildungsmodelle. Das Netzwerk indigener Universitäten ist mittlerweile ein anerkannter Projektpartner europäischer Universitäten.

 

Kultur ist ein entscheidender Faktor im Umgang mit der globalen Herausforderung Flucht. Denn Kultur bedeutet Wurzeln zu haben und zu schlagen. Flüchtende verlieren die Geborgenheit und Orientierung ihrer eigenen Kultur und Sprache, häufig in jungen Jahren. Kultur spielt für die erfolgreiche Integration eine wichtige Rolle. Knapp 90 Prozent der Flüchtlinge werden von Entwicklungsländern aufgenommen, die für diese Herausforderungen kaum gerüstet sind, so im Nahen Osten. Die deutsche Entwicklungspolitik unterstützt diese Länder unter anderem mit Investitionen in Kulturzentren und kulturelle Projekte für Geflüchtete und die ansässige Bevölkerung, wie in Gaza, im Westjordanland, in Jordanien und im Libanon. Ein konkretes Beispiel ist der Aufbau eines Kulturzentrums im jordanischen Flüchtlingscamp Talbieh in Kooperation mit dem Women Program Center Talbieh. Dort können sich junge Menschen mit zurückliegenden Erlebnissen und ihrer Situation vor Ort auseinander setzen. Der Einsatz verschiedener Medien wie Film und Fotografie bietet die Möglichkeit zur Verarbeitung des Erlebten und trägt bei zur aktiven Gestaltung des kulturellen Lebens im Flüchtlingscamp – ein wichtiger Stabilisierungsfaktor bzw. Hoffnungsträger für den Alltag vieler Jugendlicher.

 

Die Kultur- und Kreativwirtschaft ist einer der am schnellsten wachsenden Zweige der Weltwirtschaft, derzeit liegt die Region Asien-Pazifik vorn, gefolgt von Europa. Auch in Entwicklungsländern wächst der Sektor zunehmend. Er bietet gerade jungen Menschen zukunftsorientierte Einkommens- und Beschäftigungsperspektiven. Produktdesign, Kunsthandwerk, Film und Mode sind in Entwicklungsländern wettbewerbsfähig. So schafft Nollywood in Nigeria mit 2.500 Filmproduktionen pro Jahr rund eine Million Arbeitsplätze und 600 Millionen USD Umsatz. Die Filmindustrie ist dort der zweitgrößte Sektor nach der Landwirtschaft. In Albanien unterstützt die deutsche Entwicklungspolitik die Regierung dabei, die Ausbildung von Architekten, Designern und Werbetreibenden zu verbessern. Auch durch den Schutz von geistigem Eigentum, die Gründung von Interessenverbänden und die Vermittlung von Kontakten zur Modeindustrie sorgt die albanische Regierung mit deutscher Unterstützung für mehr Einkommen in der Kreativbranche.

 

Entwicklungspolitik ist auch Kulturpolitik
Kultur ist ein elementarer Bestandteil nachhaltiger Entwicklung und gewinnt angesichts der Vielzahl religiöser, ethnischer und interkultureller Konflikte weiter an Bedeutung. Die deutsche Entwicklungspolitik trägt dieser Tatsache Rechnung und baut ihr Engagement insbesondere in den Bereichen Kreativwirtschaft, Medien und auch Sport aus. Gemeinsam mit nationalen und internationalen, bekannten wie neuen Partnern setzen wir uns dafür ein, Kultur in ihrer ganzen Bandbreite zu fördern und zu fordern. Denn sie ist die Essenz des menschlichen Daseins.

Gerd Müller
Gerd Müller ist Bundesminister für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung.
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