„Sprachen der Macht müssen auf den Friedhof“

Die Sprache muss dekolonialisiert werden

Als Ngũgĩ wa Thiong’o nach seinem ersten Semester an der Alliance High School nach Limiru zurückkehrte, waren das Haus seiner Mutter und das Dorf in Schutt und Asche gelegt. Die Briten hatten den Ausnahmezustand erklärt und die Bürgerrechte für alle Kenianer ausgesetzt. Die gesamte Bevölkerung wurde nach Kamĩrĩthũ verlagert. Frauen und Kinder sollten dort ihr Leben wie gewohnt fortsetzen, während ein Großteil der Männer verschwunden war. Sie wurden entweder in Internierungslager geschickt oder versteckten sich in den Bergen und kämpften – wie der ältere Bruder von Ngũgĩ – mit der „Kenya Land and Freedom Army“, der „Mau Mau“. Das war im Jahr 1955.

 

1976 klopfte eine Frau an die Tür von Ngũgĩ. Sie wollte ihn – einen erfolgreichen Romanautor und Vorsitzenden des Fachbereichs Literatur an der Universität Nairobi – bitten, ein leer stehendes Jugendzentrum in Kamĩrĩthũ neu zu beleben. Er akzeptierte und innerhalb eines Jahres wurde es grundlegend umgestaltet. Auf der Basis demokratischer Entscheidungsgrundlage veranstaltete das Zentrum unter anderem Literaturkurse für Erwachsene. Ngũgĩ hat als Vorsitzender seines Kulturausschusses ein Theaterstück mitgeschrieben, das von einer Gruppe von Bauern und Fabrikarbeitern bearbeitet und aufgeführt wurde. Tausende Menschen füllten das Freilichttheater, um über die Verurteilung einer korrupten nationalen Elite zu hören, die Kenia nach seiner Unabhängigkeit ausbeutete.

 

Am 16. November 1977 wurde die Lizenz für das Stück entzogen. Zwei Wochen später verhaftete die kenianische Polizei Ngũgĩ. Sie brachten ihn in das Kamĩtĩ Hochsicherheitsgefängnis, wo er über ein Jahr lang verharrte. Dort wurde ihm bewusst, dass er nicht wegen der Kritik an der postkolonialen Regierung inhaftiert worden war, sondern weil er das Stück an ein arbeiterfreundliches, Gĩkũyũ sprechendes Publikum gerichtet hatte. Ab diesem Zeitpunkt kannte er seinen Weg: Er würde – heimlich und auf im Gefängnis ausgegebenem

 

Toilettenpapier – den ersten modernen Roman in Gĩkũyũ schreiben.
Als „Devil on the Cross“ veröffentlicht wurde, erreichte es ein breites Publikum – sowohl Lesende als auch Analphabeten, die das Buch häufig vorgelesen bekamen: zu Hause, auf Werksgeländen, in Bussen, sogar in Bars. Alle kreativen Schriften von Ngũgĩ sind seitdem auf Gĩkũyũ erschienen.

 

Heute ist er Professor für Vergleichende Literaturwissenschaft an der University of California, Irvine, wo er auch das International Center for Writing and Translation leitet. Anthony Audi spricht mit ihm im Büro von Ngũgĩ, umgeben von Büchern.

 

Anthony Audi: Könnten Sie mir von Ihrer Erfahrung erzählen, wie Sie in Kenia aufgewachsen sind? Wie hat Sie das koloniale Bildungssystem von Ihrer Kultur entfremdet oder versucht zu entfremden?
Ngũgĩ wa Thiong’o: In gewisser Weise ist es genau das, worüber ich in meinem Buch „Decolonizing the Mind“ schreibe. Ich schreibe über die Politik der Sprache. Aber ich schreibe auch über meine eigenen Erfahrungen in Kenia, den Schulbesuchen und die Tatsache, dass die englische Sprache meine Muttersprache Gĩkũyũ als die dominante Sprache in meiner intellektuellen Bildung ersetzte. Was ich zunächst beunruhigend fand, weil ich dachte, dass es nur mit Afrika zu tun hat, war die körperliche Bestrafung von Kindern, die auf dem Schulgelände afrikanische Sprachen gesprochen haben. Das war sehr verbreitet. Das war sehr gewalttätig. Mit dem Sprechen afrikanischer Sprachen ist viel Gewalt verbunden. Und darüber habe ich in „Decolonizing the Mind“ geschrieben. Seitdem habe ich festgestellt, dass dies für alle Situationen der „Dominanten“ und der „Dominierten“ gilt – in allen kolonialen Situationen. Es geschah in Schottland, es geschah in Wales: Wenn die Kinder dabei erwischt wurden, wie sie z. B. auf dem Schulgelände walisisch sprachen, dann wurden sie gedemütigt und dazu gebracht, kleine Schilder um den Hals zu tragen, auf denen stand: „Nicht walisisch“. Das Gleiche fand ich bei den amerikanischen Ureinwohnern. Und die Menschen im Pazifik – die Maori – wurden auf die gleiche Weise behandelt. Die Sprachen der Macht müssen auf dem Friedhof anderer Sprachen gepflanzt werden.

 

Das Löschen einer Sprache ist auch das Löschen dessen, was diese Sprache enthält.

Ja, die Geschichte, die Wissenssysteme und viele andere Dinge. Sehen Sie sich die Sprache Popol Vuh der Maya an. Als die Spanier Amerika eroberten, schnappten sie sich die Schriften der Maya und verbrannten sie einfach! Wenn man darüber nachdenkt, ist es wirklich das unglaublichste Phänomen. All die Bücher in der Sprache der Maya wurden vernichtet – einfach so! Nicht einmal die Neugierde, zuerst zu wissen, was sie enthalten, hielt sie zurück. Einfach zerstören, zerstören, zerstören. Was sie zerstörten, war die Geschichte und das gesamte Wissenssystem, das in diesen Sprachen enthalten war.

Ngũgĩ wa Thiong’o und Anthony Audi
Ngũgĩ wa Thiong’o ist Autor und Professor für Vergleichende Literaturwissenschaft an der University of California. Anthony Audi ist stellvertretender Direktor von Onassis Los Angeles.
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